Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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ständlich nicht dem religiösen Indifferentismus 
das Wort geredet, sondern lediglich die staatliche 
und politische Gerechtigkeit auf den Schild erhoben 
werden. 
Aber auch das hohe Gut des konfessionellen 
Friedens, der für den ungefährdeten Bestand 
des Gemeinwesens, für die glatte Abwicklung der 
Staatsgeschäfte und die zusammenfassende Arbeit 
aller Volkskreise an den nationalen Aufgaben von 
so wesentlicher Bedeutung ist, macht dem Staat 
eine andere Haltung heute unmöglich. Denn 
schickte er sich dazu an, die eine Konfession zu- 
gunsten der andern religiös zu bedrücken, so würde 
er ohne Not eine Verdrossenheit der Stimmung 
und eine Bitterkeit der Gefühle entfesseln, welche 
dem allgemeinen Staatswohl sicher zum Nachteil 
gereichen würde und ihn bald zum schimpflichen 
Rückzug nötigen könnte. Nichts zerklüftet ein Volk 
so sehr als konfessioneller Haß und Hader. Des- 
halb erheben die wahren Freunde von Staat und 
Kirche den gemessenen Ruf: Die religiöse Hetze 
muß aufhören. Einen widerlicheren Anblick als 
die gegenseitige Zerfleischung von Stammesbrüdern 
in den blutigen Religionskriegen, welche nach der 
Reformation die europäischen Staaten schändeten, 
kann die Weltgeschichte dem Vaterlandsfreunde 
nicht leicht vor Augen führen. Die Gegenwart 
treibt aber ähnlichen Zuständen unfehlbar ent- 
gegen, wenn nicht der ehrliche Wunsch einträchtigen 
Zusammenlebens der getrennten Religionsparteien 
zum herrschenden Ton im Staatsganzen wird, ein 
Ziel, das nur erreicht werden kann, wenn sich vor 
allem die Staatslenker der unpartei#schsten Gerech- 
tigkeit in Handhabung der Paritätsgrundsätze be- 
fleißigen. Damit wird abermals die Forderung 
der Religionsfreiheit zu einer absoluten Staats- 
notwendigkeit. — Vgl. W. Haidegger, Der natio- 
nale Gedanke im Licht des Christentums (1902); 
E. Troeltsch, Politische Ethik und Christentum 
(1904); Heiner, Konfessioneller Geisteskampf und 
Reformkatholizismus (1900). 
Das Prinzip der Bekenntnisfreiheit besagt nicht 
bloß Religionsfreiheit für das Individuum, son- 
dern umschließt auch die einfache Hausandacht 
im Kreis der Familie, weil der häusliche Gottes- 
dienst über den Rahmen des Persönlichen nicht 
hinausgeht und deshalb vom Staat nicht zu ver- 
bieten oder zu stören, sondern gegen äußere Be- 
helligung zu schützen ist. Vgl. preuß. Landrecht 
(1794) TIII, Tit. 11, 87: „Jeder Hausvater kann 
seinen häuslichen Gottesdienst nach Gutbefinden 
anordnen“; Bayr. Religionsedikt (1818) 8§ 2: 
„Auch darf niemanden, zu welcher Religion er 
sich bekennen mag, die einfache Hausandacht unter- 
sagt werden.“ In Konsequenz des Prinzips darf 
aber auch die qualifizierte Hausandacht, d. h. 
unter Zuziehung eines Religionsdieners und mit 
Zulassung von Familienfreunden, nicht von der 
staatlichen Genehmigung abhängig gemacht werden, 
weil ein solcher Gottesdienst weder das äußere 
Leben des Staates berührt noch den Begriff der 
  
Bekenntnisfreiheit. 
  
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Hausandacht wesentlich verändert. Das Staats- 
interesse beginnt erst dort, wo über die Familien 
hinaus neue Religionsgesellschaften mit dem Recht 
aufgemeinsamen (Privat= oderöffentlichen) Gottes- 
dienst sich bilden wollen, weshalb für diesen Fall 
die meisten Staatsverfassungen die staatliche Ge- 
nehmigung vorschreiben. Vgl. Bayr. Religions-= 
edikt 3 3:„ „Sobald mehrere Familien zur Aus- 
übung ihrer Religion sich verbinden wollen, so 
wird hierzu die ausdrückliche königliche Genehmi- 
gung erfordert.“ Musterhaft ist die preußische 
Verfassung (1850) § 12: „Die Freiheit des reli- 
giösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Religions- 
gesellschaften und der gemeinsam häuslichen und 
öffentlichen Religionsübung wird gewährleistet.“ 
Deshalb hat der Toleranzantrag der Zentrums- 
fraktion des Deutschen Reichstags v. 23. Nov. 1900 
gerade diesen Artikel als Programm für die künf- 
tige Reichsgesetzgebung an die Spitze gestellt (vgl. 
Erzberger, Der Toleranzantrag der Zentrums- 
fraktion des Reichstags (1906.)). Die individuelle 
Bekenntnisfreiheit schließt auch das Recht des 
Austritts aus einer Religion bzw. des Uber- 
tritts zu einer andern in sich. Während das 
Kirchenrecht kein Recht zum Austritt aus der katho- 
lischen Kirche kennt, sondern den Abfall vielmehr 
mit dem Ausschluß (Exkommunikation) bestraft, 
stellt hingegen der moderne Staat dem seiner selbst 
bewußt gewordenen Individuum die Wahl des 
Bekenntnisses frei. Die gesetzliche Altersgrenze für 
den Religionswechsel ist in den deutschen Landes- 
gesetzgebungen ebenso verschieden (zwischen dem 
14. und 21. Lebensjahr) als die vorgeschriebenen 
Formalitäten des Aus= und Üübertritts (Austritts- 
erklärung vor Seelsorger, Kirchenvorstand, Amts- 
richter; Uberlegungsfrist zwischen 4 und 6 Wochen 
mit nochmaliger Erklärung; in Osterreich Ab- 
meldung bei der politischen Behörde, die den Seel- 
sorger der verlassenen Kirche benachrichtigt). Die 
Festsetzung des 21. Lebensjahres als Altersgrenze 
(s. Bayr. Religionsedikt § 6; Weimarer Edikt 
1823 8 61; in Sachsen Königl. Mandat 1827 
§ 10 ist von bureaukratischer Engherzigkeit nicht 
frei, weil ein indirekter Bekenntniszwang darin 
liegt, einen vollreifen Menschen in einer Konfession 
festzuhalten, die seiner innern Uberzeugung wider- 
spricht. Für den Übertritt zur katholischen Kirche 
setzt das kanonische Recht als zulässige Grenze im 
allgemeinen das 7. Lebensjahr fest (8. Congreg. 
Conc. d. 16. Lulül 1639, bei Bened. XIV., 
Constit. Postremo mense d. 28. Febr. 1747). 
Kein Konvertit darf strafrechtlich belangt und mit 
Entziehung oder Verminderung seiner bürgerlichen 
und politischen Rechte bestraft werden. Der Über- 
tritt zum Judentum war in Preußen seit 1847, 
in Sachsen seit 1850 gesetzlich gestattet. Heute 
wird der Abfall vom Christentum mit oder ohne 
Übergang zu einer nichtchristlichen Religion nir- 
gends mehr erschwert (l. Reichsgesetz v. 22. April 
1871 8 2; Osterreich. Staatsgrundgesetz v. 1867 
über die Rechte der Staatsbürger Art. 14). —
	        
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