Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Nunmehr ist die Artillerieausrüstung wie die Be- 
festigungskunst eine ganz andere geworden. Durch 
Feldgeschütze kann ein nennenswerter Erfolg gegen 
Bastionen nicht mehr erzielt werden, und die Be- 
lagerung eines starken Offensivplatzes nimmt nicht 
selten einen schlachtenmäßigen Charakter an. Unter 
diesen veränderten Verhältnissen erweisen sich die 
herkömmlichen Regeln des Völkerrechts über das 
Bombardement als kaum durchführbar. 
Art. 16 der Brüsseler Deklaration vom 27. Aug. 
1874 und hiermit übereinstimmend Art. 26 der 
onger Konferenz-Bestimmungen betreffend die 
iegsrechtsregeln für den Landkrieg vom 29. Juli 
1899 wollen nämlich die rechtzeitige Ankündigung 
der Beschießung einer befestigten Stadt oder Lager- 
festung als Vorschrift des Völkerrechts beobachtet 
wissen. Allein, abgesehen von militärischen Er- 
wägungen, wäre dieser Vorgang nicht einmal hu- 
man. Die rücksichtslose Durchführung der Kriegs- 
handlungen kommt auch hier der Humanität zu- 
gute, indem der rasche Verlauf einer Belagerung 
der Bevölkerung die Leiden einer Hungersnot, 
die Heimsuchungen durch Seuchen, Empörung 
und andere Folgeübel erspart. — Auch ist es 
nicht möglich, nur die Festung zu beschießen. Die 
absolute und unlösbare Verbindung von Stadt 
und Befestigung gibt eben dem Angreifer einen 
Teil der Stärke, womit er die großen Vorteile, 
welche dem Verteidiger zur Seite stehen, auszu- 
gleichen vermag. Die Gebundenheit des Vertei- 
digers einer Festung an ihre städtische Ortlichkeit, 
die von der Verwirrung und Ratlosigkeit der Be- 
wohner ausgehende Rückwirkung auf die militäri- 
schen Operationen sind eben Momente, welche sich 
der Angreifer dem taktisch überlegenen Verteidiger 
gegenüber bei der größten Willfährigkeit für Recht 
und Humanität nicht entgehen lassen kann. 
Zu ganz besonderer Erwägung gibt der Satz 
des Kriegsvölkerrechts Veranlassung: „Offene, 
unverteidigte Städte, Marktflecken und Ort- 
schaften sind nicht Objekte des Angriffs und der 
Beschießung“ (Brüsseler Deklaration Art. 15 und 
Haager Konf.-Bestimm. Art. 25). In dieser Be- 
ziehung ist daran zu erinnern, daß nicht das Ver- 
teidigtsein für den Angriff eines Ortes entscheidend 
ist, sondern die strategische Bedeutung, welche 
derselbe innerhalb der obwaltenden Kriegslage 
besitzt, sei es zur Sicherung der eigenen Aktion, 
sei es zur Schwächung der gegnerischen. Ortlich- 
keiten, in denen sich mobile wie stabile Magazine, 
Arsenale und Kriegswerkstätten befinden, oder 
welche als Sammelstätten eines geschlagenen Fein- 
des dienen oder Zentralpunkte für die Organi- 
sierung der Landesverteidigung sind, werden von 
artilleristischen Angriffen nicht verschont bleiben 
können. Sonst wird man auch von der Konven- 
tion der zweiten Haager Konferenz, wonach die 
Beschießung offener Häsen und Plätze durch was 
immer für Mittel (Luftartillerie) verboten sein 
soll, und wenn ein Platz beschossen wird, auch im 
Seekrieg historische Denkmäler, Kirchen, Kranken- 
Belagerung. 
  
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häuser, Museen und wissenschaftliche Anstalten 
möglichst zu schonen sind, nicht allzuviel erwarten 
dürfen. 
Dieerfahrungsgemäß für das Völkerrecht brauch= 
baren Sätze bezüglich des Festungskrieges 
wären etwa folgende: 1. Die grundsätzliche An- 
kündigung des Beginns einer Beschießung ist 
militärisch schwer durchführbar. 2. Es ist im 
Festungskrieg der Gegemwart nicht möglich, den 
fortifikatorischen und den städtischen Bereich aus- 
einanderzuhalten und zwischen Besatzung und Be- 
völkerung als Angriffsobjekten zu unterscheiden. 
3. Eine nachhaltige, aber verhältnismäßig kurze 
Zeit andauernde Beschießung wirkt minder schwer 
als eine langwierige Aushungerung, deren Folge- 
übel einer Bevölkerung den nachhaltigsten Scha- 
den zufügen. 4. Als Maßregeln militärischer 
Notwendigkeit sind Belagerung und Beschießung 
durch diese Notwendigkeit bedingt, aber auch be- 
grenzt. Repressalien, Plünderung und Brand- 
legung an einer belagerten Festung, deren Bewoh- 
ner die Besatzung unterstützt haben, sind ebenso 
unstatthaft als das geflissentliche Zuwarten, wenn 
Pöbeltumulte und Gemetzel in einem eingeschlosse- 
nen Platz ausgebrochen sind. 
Die letzten großen Zernierungsoperationen 
waren: 1870 Paris, Zernierungslinie 82 km; 
Metz, Zernierungslinie 38 km; Belfort, Zernie- 
rungslinie 13 km; 1877 Plevna, Zernierungs- 
linie 75 km; 1899/1900 Ladysmith (erst nach 
erfolgter Zernierung in eine im seldmäßigen Stil 
ausgebaute Gürtelfestung umgewandelt), Zer- 
nierungslinie 42 km. Die Belagerung von Se- 
wastopol dauerte 327, von Paris 167, von Char- 
tum 341, von Ladysmith 118, von Kimberley 
123, von Port Arthur 328 Tage. 
2. Im Seekrieg. Der Verschiedenheit der 
Kriegsmittel angemessen unterscheiden sich Zernie- 
rung und Beschießung zur See von den dies- 
bezüglichen Operationen zu Land in wesentlichen 
Punkten. Zunächst haben sie nicht unbedingt den 
Kriegsfall zur Voraussetzung, sondern gelangen 
auch als völkerrechtliche Zwangsmaßregeln zur 
Durchsetzung von Rechtsansprüchen oder Erlan- 
gung von Genugtuung zur Anwendung. In die- 
sem Fall bildet das Bombardement einen Re- 
pressalienakt und hat den Charakter einer militä- 
rischen Demonstration, welcher es zuläßt, daß die 
Beschießung vorher angekündigt wird. — Das 
19. Jahrhundert war reich an Kämpfen der Schiffs- 
kanonen und Geschütze der Strandbefestigungen. 
Gleich zu Beginn desselben, am 2. April 1801, 
beschoß die englische Flotte unter Nelson und 
Parker die Stadt Kopenhagen, um Dänemark 
für die mit Rußland, Preußen und Schweden 
eingegangene bewaffnete Neutralität zu strafen, 
und zwar mit vollständigem Erfolg. Sechs Jahre 
später wiederholte sich dasselbe Schauspiel in viel 
größerem Maßstab. Vier Tage lang, vom 2. bis 
zum 5. Sept. 1807, donnerten die englischen 
Schiffskanonen gegen Kopenhagen. Die Ver-
	        
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