729
Nunmehr ist die Artillerieausrüstung wie die Be-
festigungskunst eine ganz andere geworden. Durch
Feldgeschütze kann ein nennenswerter Erfolg gegen
Bastionen nicht mehr erzielt werden, und die Be-
lagerung eines starken Offensivplatzes nimmt nicht
selten einen schlachtenmäßigen Charakter an. Unter
diesen veränderten Verhältnissen erweisen sich die
herkömmlichen Regeln des Völkerrechts über das
Bombardement als kaum durchführbar.
Art. 16 der Brüsseler Deklaration vom 27. Aug.
1874 und hiermit übereinstimmend Art. 26 der
onger Konferenz-Bestimmungen betreffend die
iegsrechtsregeln für den Landkrieg vom 29. Juli
1899 wollen nämlich die rechtzeitige Ankündigung
der Beschießung einer befestigten Stadt oder Lager-
festung als Vorschrift des Völkerrechts beobachtet
wissen. Allein, abgesehen von militärischen Er-
wägungen, wäre dieser Vorgang nicht einmal hu-
man. Die rücksichtslose Durchführung der Kriegs-
handlungen kommt auch hier der Humanität zu-
gute, indem der rasche Verlauf einer Belagerung
der Bevölkerung die Leiden einer Hungersnot,
die Heimsuchungen durch Seuchen, Empörung
und andere Folgeübel erspart. — Auch ist es
nicht möglich, nur die Festung zu beschießen. Die
absolute und unlösbare Verbindung von Stadt
und Befestigung gibt eben dem Angreifer einen
Teil der Stärke, womit er die großen Vorteile,
welche dem Verteidiger zur Seite stehen, auszu-
gleichen vermag. Die Gebundenheit des Vertei-
digers einer Festung an ihre städtische Ortlichkeit,
die von der Verwirrung und Ratlosigkeit der Be-
wohner ausgehende Rückwirkung auf die militäri-
schen Operationen sind eben Momente, welche sich
der Angreifer dem taktisch überlegenen Verteidiger
gegenüber bei der größten Willfährigkeit für Recht
und Humanität nicht entgehen lassen kann.
Zu ganz besonderer Erwägung gibt der Satz
des Kriegsvölkerrechts Veranlassung: „Offene,
unverteidigte Städte, Marktflecken und Ort-
schaften sind nicht Objekte des Angriffs und der
Beschießung“ (Brüsseler Deklaration Art. 15 und
Haager Konf.-Bestimm. Art. 25). In dieser Be-
ziehung ist daran zu erinnern, daß nicht das Ver-
teidigtsein für den Angriff eines Ortes entscheidend
ist, sondern die strategische Bedeutung, welche
derselbe innerhalb der obwaltenden Kriegslage
besitzt, sei es zur Sicherung der eigenen Aktion,
sei es zur Schwächung der gegnerischen. Ortlich-
keiten, in denen sich mobile wie stabile Magazine,
Arsenale und Kriegswerkstätten befinden, oder
welche als Sammelstätten eines geschlagenen Fein-
des dienen oder Zentralpunkte für die Organi-
sierung der Landesverteidigung sind, werden von
artilleristischen Angriffen nicht verschont bleiben
können. Sonst wird man auch von der Konven-
tion der zweiten Haager Konferenz, wonach die
Beschießung offener Häsen und Plätze durch was
immer für Mittel (Luftartillerie) verboten sein
soll, und wenn ein Platz beschossen wird, auch im
Seekrieg historische Denkmäler, Kirchen, Kranken-
Belagerung.
730
häuser, Museen und wissenschaftliche Anstalten
möglichst zu schonen sind, nicht allzuviel erwarten
dürfen.
Dieerfahrungsgemäß für das Völkerrecht brauch=
baren Sätze bezüglich des Festungskrieges
wären etwa folgende: 1. Die grundsätzliche An-
kündigung des Beginns einer Beschießung ist
militärisch schwer durchführbar. 2. Es ist im
Festungskrieg der Gegemwart nicht möglich, den
fortifikatorischen und den städtischen Bereich aus-
einanderzuhalten und zwischen Besatzung und Be-
völkerung als Angriffsobjekten zu unterscheiden.
3. Eine nachhaltige, aber verhältnismäßig kurze
Zeit andauernde Beschießung wirkt minder schwer
als eine langwierige Aushungerung, deren Folge-
übel einer Bevölkerung den nachhaltigsten Scha-
den zufügen. 4. Als Maßregeln militärischer
Notwendigkeit sind Belagerung und Beschießung
durch diese Notwendigkeit bedingt, aber auch be-
grenzt. Repressalien, Plünderung und Brand-
legung an einer belagerten Festung, deren Bewoh-
ner die Besatzung unterstützt haben, sind ebenso
unstatthaft als das geflissentliche Zuwarten, wenn
Pöbeltumulte und Gemetzel in einem eingeschlosse-
nen Platz ausgebrochen sind.
Die letzten großen Zernierungsoperationen
waren: 1870 Paris, Zernierungslinie 82 km;
Metz, Zernierungslinie 38 km; Belfort, Zernie-
rungslinie 13 km; 1877 Plevna, Zernierungs-
linie 75 km; 1899/1900 Ladysmith (erst nach
erfolgter Zernierung in eine im seldmäßigen Stil
ausgebaute Gürtelfestung umgewandelt), Zer-
nierungslinie 42 km. Die Belagerung von Se-
wastopol dauerte 327, von Paris 167, von Char-
tum 341, von Ladysmith 118, von Kimberley
123, von Port Arthur 328 Tage.
2. Im Seekrieg. Der Verschiedenheit der
Kriegsmittel angemessen unterscheiden sich Zernie-
rung und Beschießung zur See von den dies-
bezüglichen Operationen zu Land in wesentlichen
Punkten. Zunächst haben sie nicht unbedingt den
Kriegsfall zur Voraussetzung, sondern gelangen
auch als völkerrechtliche Zwangsmaßregeln zur
Durchsetzung von Rechtsansprüchen oder Erlan-
gung von Genugtuung zur Anwendung. In die-
sem Fall bildet das Bombardement einen Re-
pressalienakt und hat den Charakter einer militä-
rischen Demonstration, welcher es zuläßt, daß die
Beschießung vorher angekündigt wird. — Das
19. Jahrhundert war reich an Kämpfen der Schiffs-
kanonen und Geschütze der Strandbefestigungen.
Gleich zu Beginn desselben, am 2. April 1801,
beschoß die englische Flotte unter Nelson und
Parker die Stadt Kopenhagen, um Dänemark
für die mit Rußland, Preußen und Schweden
eingegangene bewaffnete Neutralität zu strafen,
und zwar mit vollständigem Erfolg. Sechs Jahre
später wiederholte sich dasselbe Schauspiel in viel
größerem Maßstab. Vier Tage lang, vom 2. bis
zum 5. Sept. 1807, donnerten die englischen
Schiffskanonen gegen Kopenhagen. Die Ver-