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am 27. Jan. 1831 die „Trennungsgrundlagen“
fest, denen zufolge Luxemburg dem Haus Oranien
verbleiben und Belgien 1/1 der Schuld des
Königreichs der vereinigten Niederlande über-
nehmen sollte. Der belgische Kongreß erklärte sich
damit jedoch nicht einverstanden, worauf als neue
Grundlage am 26. Juni in London „die 18 Ar-
tikel“ vereinbart wurden, welche in dem insur-
gierten Luxemburg den status quo gleichfalls auf-
rechterhielten. Nachdem die Wahl des Herzogs
von Nemours (3. Febr.) zum König von Belgien
von der Londoner Konferenz und auch vom Vater
des Prinzen, Louis Philippe von Frankreich, ab-
gelehnt worden war, wurde der Präsident des
Kongresses, Baron Surlet de Chokier, am 23. Febr.
zum provisorischen Regenten ernannt, und am
4. Juni auf Englands Empfehlung der Prinz
Leopold von Sachsen-Coburg zum König
gewählt. Der Prinz willigte ein unter der
Bedingung, daß „die 18 Artikel“ zu Recht be-
ständen, hielt am 21. Juli seinen Einzug in
Brüssel und leistete den Eid auf die am 7. Febr.
zum Abschluß gebrachte Verfassung. Holland ver-
warf aber „die 18 Artikel“, protestierte gegen die
neue Ordnung und ließ im August ein Heer in
Belgien einrücken, welches die dürftig organisierten
belgischen Truppen bei Hasselt und Löwen schlug
und zersprengte, sich aber vor einem französischen
Hilfskorps zurückziehen mußte. Auch die von der
Konferenz am 6. Okt. beschlossenen, endgültig er-
klärten „24 Artikel“, nach denen Luxemburg und
Limburg zwischen beiden Mächten geteilt und von
Belgien jährlich 8 400 000 Gulden als Zinsen
seines Anteils an der holländischen Staatsschuld
gezahlt werden sollten, lehnte Holland ab. Eine
englisch-französische Flotte blockierte infolgedessen
die Schelde und die holländische Küste, und fran-
zösische Truppen unter Marschall Géerard eroberten
die noch von Holländern unter Chasse besetzte Zita-
delle von Antwerpen nach 24tägiger Belagerung
(UÜbergabe am 1. Jan. 1833). Der Präliminar-
vertrag vom 21. Mai 1833 zwischen England,
Frankreich und Holland machte zwar dem Zwangs-
verfahren ein Ende, aber die Unterhandlungen
dauerten noch mehrere Jahre. Erst am 14. März
1838 erfolgte die endgültige Annahme der „24 Ar-
tikel“ durch Holland und am 16. Febr. 1839
durch die belgischen Kammern. Luxemburg und
Limburg wurden zwischen Holland und Belgien
geteilt; Belgien übernahm einen Teil der Staats-
schuld und erhielt ewige Neutralität garantiert.
Auf dieser Grundlage fand durch Vertrag vom
19. Okt. 1842 die Liquidation mit Holland und
die Erledigung der sich daran knüpfenden Neben-
punkte statt. So war endlich der äußere Bestand
des neuen Königreichs gesichert.
Nun aber gerieten die beiden Parteien, die ge-
eint den Sturz der Holländer herbeigeführt hatten,
aneinander. In der innern Gesetzgebung, beson-
ders bei der Frage des öffentlichen Unterrichts,
traten bald die Gegensätze zwischen Liberalen und
Belgien.
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Katholiken scharf hervor, und es begann der
Kampf, der seitdem die Entwicklung des belgischen
Staatswesens ununterbrochen beherrscht und die
politisch-religiöse Lage des Landes schon wieder-
holt geändert hat. Die Liberalen, vielfach grund-
sätzliche Feinde der Religion, suchten, unterstützt
von den Neigungen des religiös indifferenten
Königs, besonders die Schule dem Einfluß der
Geistlichkeit zu entziehen. Trotz dieser innern
Kämpfe, trotz eines siebenmaligen Ministerwechsels
in der kurzen Zeit von 1830 bis 1847 vermochten
die Stürme des Jahrs 1848 das von dem treuen
katholischen Volk gestützte junge Königtum nicht
zu erschüttern, obwohl die französischen Revolu-
tionäre es an nichts fehlen ließen und sogar einen
Freischarenzug auf belgisches Gebiet wagten. Die
Parteizwistigkeiten dauerten weiter fort, die Mi-
nisterien wechselten, bis es der liberalen Partei
gelang, sich von 1857 ab 13 Jahre lang in der
Majorität zu behaupten. Leopold II zeigte
ebensowenig wie sein Vorgänger Leopold I. (gest.
10. Dez. 1865) Sympathien für die Katholiken,
die erst am 2. Juli 1870 wieder ans Ruder kamen
(d'Anethan, de Theux, Malou, d'Aspremont=
Linden). Die katholische Regierung behauptete
sich dann acht Jahre, bis die Wahlen vom
11. Juni 1878 den Liberalen wieder eine bedeu-
tende Kammermajorität verschafften. Der Eintritt
des neuen Ministeriums Frère-Orban (19. Juni
1878) war der Ausgangspunkt eines erbitterten
Kampfes, der nicht nur im Parlament von den
politischen Parteien, sondern auch im Volk bis in
die kleinste Gemeinde hinein zwischen den Gegnern
und den Verfechtern der konfessionslosen Staats-
schule geführt wurde. Diese durchzuführen, war
das Ziel der durch das liberale Ministerium ver-
tretenen Loge; weitere kirchenfeindliche Maßnah=
men schlossen sich bald an, so unter andern die
Aufhebung der diplomatischen Vertretung beim
Heiligen Stuhl.
Die schwächste Seite des liberalen Regiments
waren die Finanzen: das Defizit wuchs von Jahr
zu Jahr, und besonders die neuen Staatsschulen,
die das Budget in außerordentlicher Weise be-
lasteten, boten der Opposition ein bequemes An-
griffsobjekt. Daher erfolgte bald wieder ein Um-
schwung: die Wahlen vom 10. Juni 1884 brach-
ten den Katholiken eine Majorität von 34 Stimmen.
Am 16. Juni konstituierte sich das neue katholische
Ministerium unter Malou, an dessen Stelle am
26. Okt. 1884 Beernaert trat. Die Neuerungen
auf dem Gebiet der Schule wurden beseitigt oder
abgeändert und die diplomatische Vertretung beim
Vatikan wiederhergestellt (8. Aug.). Durchden gün-
stigen Ausfall der Wahlen am 12. (19.) Juni 1888
erlangten die Katholiken sowohl im Senat als auch
in der Repräsentantenkammereeine Zweidrittelmajo-
rität, und nunmehr begann die eifrige Arbeit zur
Lösung der sich immer mehr aufdrängenden Ver-
fassungsfrage und zur Bewältigung der sozialen
Aufgaben. Zwischendurch wurde ein Mittel zu