Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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wohl hie und da den eigentlich sittlichen, höheren 
Glückseligkeitsbegriff (correct view, practice of 
morality) von dem rein sinnlichen Genuß (the 
pursuit of pleasure [Deontologie I 12; Works 
114 24; Principles of Moral and Legislation 
ch. 30). Manchmal sind wir versucht, zu glauben, 
Bentham habe Kenntnis von den kritischen Be- 
merkungen Platos (Gorg. 451 D) oder wenig- 
stens von der nikomachischen Ethik (7, 12—15; 
10, 1—5; vgl. Metaph. 12, 7) gehabt; und doch 
verfällt Bentham immer wieder in die Gemein- 
plätze des rohen Empirismus oder wenigstens in 
das Sophisma der Erschleichung eines positiven 
Begriffsinhalts aus einer reinen Negation (Works 
1 21; IV 121; Log. 8). 
Merkwürdigerweise sieht Bentham eine von 
niemand bestrittene Tatsache: no man pursues 
unhappiness (Works 1 21), als gleichbedeutend 
mit dem Satz an, daß alle Menschen das Lust- 
gefühl als Maßstab des Glückes anerkennen, etwa 
im Sinn Demokrits und Epikurs (Diog. Laert. 
9, 45). Die Tatsache, daß alle Menschen nach 
Glück streben, verwendet er zu dem Schluß, sein 
Utilitätsprinzip allein sei maßgebend für 
Gesetz, Sitte und Religion. Die beiden wichtigen 
Tatsachen, daß die Mehrzahl der Menschen ein 
bloßes Phantom, den leeren Schein des Glückes 
statt des wirklichen Glückes verfolgen, daß wieder 
andere durch ungeordnete und verkehrte Art des 
Strebens statt des Glückes das Gegenteil erreichen, 
schlägt Benthan mit dem Gemeinplatz nieder: das 
Glück kann nicht Widerpart des Glückes sein. 
Einerseits weist er auf die Notwendigkeit der Er- 
ziehung und Bildung hin als Mittel einer rich- 
tigen Wertschätzung des „Glückes“ (Works VIII 
1; II 191), spricht sogar von der Notwendigkeit 
der Selbstentsagung (I 27), ja von den Ge- 
fahren, wenn das Urteil in der Wertschätzung des 
Glückes durch Leidenschaften irregeleitet ist Works 
1206; Deontol. II 132; Works VIII 4; L190), 
und erhebt doch sofort wieder das gemeine, niedere 
„Interesse“ und die „Lust oder Unlust“ zu den 
obersten Kriterien der Religion, der Politik, Moral 
und Gesetzgebung. Unter den verschiedenen Reli- 
gionen, die Bentham im Grunde für gleich wahr 
und gleich falsch ansieht, ist die beste jene, welche 
dem Utilitätsprinzip am nächsten steht (Principles 
of Moral and Legislation 1 58). Für Errichtung 
von Volksschulen und die allgemeine Schulpflicht 
begeistert sich Bentham (1I 58; IX 355) in gleicher 
Weise wie für Kodifizierung der bestehenden Gesetze 
und öffentliche Bekanntmachung derselben, um da- 
durch die Wertschätzung des Nützlichen und Realisie- 
rung desselben zu bewirken. Die Erziehung erscheint 
ihm als eine Disziplin der Volkswirtschaft, und 
der teuerste Schulmeister ist ihm der beste. Unter 
den gleichen Gesichtspunkt bringt Bentham die 
Verstaatlichung der Armenpflege und die Organi- 
sation derselben, die Errichtung von Armenhäusern 
(IV 27) und die Prinzipien der Armengesetz- 
gebung (1 314). Gegen die Wuchergesetze tritt 
Bentham. 
  
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er in seiner Defense of Usury (III 8) auf mit 
dem zweifachen Grunde: a) weil sie alle zusammen 
nichts helfen, b) weil einige die Interessen sowohl 
des Kapitalbesitzers als der Kapitalbedürftigen 
schädigen. 
Im Gebiet der Moral meint Bentham durch 
bloße Aufklärung und richtige Gesetzgebung der- 
artige Moralprinzipien und sittliche Motive 
(springs of action, Works IV 121; 1 195; 
124) erzeugen zu können, daß jeder Mensch und 
Staatsbürger sich dem „Übel der Selbstbeschrän- 
kung“, d. h. dem Gesetz unterziehe. Sämtliche 
bhilanthropische Bestrebungen auf den mannig- 
fachen Gebieten basiert er auf „)die Theorie der 
Lust= und Unlustempfindungen“. Selbst die legis- 
lative Tätigkeit des Staates besteht nach Bentham 
in der richtigen Wahl der „Übel“, d. h. der Gesetze. 
„Jedes Gesetz ist ein ÜUbel, denn es beschränkt die 
Freiheit. Der Gesetzgeber hat darauf zu sehen, 
daß er durch das Übel des Gesetzes das Übel des 
Verbrechens beseitige, wie der Arzt durch das 
Übel der Medizin das Übel der Krankheit" 
(ntrod. to the Constitutional Code, Works 
IX öfters; IV 537). — Schon in seinen ersten 
politischen Schriften, dem Fragment und 
den Principles, verteidigt er vom Gesichtspunkt 
des Utilitariers aus das Recht der Revolution. 
Prinzipiell entwickelt er es in seinen späteren 
Schriften. Er ist durchaus Demokrat und spricht 
der Majorität, sie mag sein, welche sie wolle, im 
Interesse des „größten Glückes aller“ (Maxi- 
mation des Wohlseins) die Herrschaft über die 
Minorität zu. Bentham haßt die Aristokratie, 
ob unter dem Namen der Whigs oder der Tories, 
ist ihm gleich. Aus diesem Grund ist er für die 
Emanzipation der Katholiken von der Staatskirche 
und verkündet die Prinzipien der Radikalreform 
des Parlaments. Er plädiert für allgemeines 
Stimmrecht mit Ausnahme der Minderjährigen 
und Analphabeten. Er verteidigt die geheimen 
Wahlen, die einjährigen Parlamentsperioden. 
Er ersinnt einen komplizierten Mechanismus, der 
die Staatsdiener unter der strengsten Kontrolle 
erhalten, die Richter zu fortwährender Präsenz 
zwingen soll (I 49; II 48f). — Bentham ver- 
langt einen kontinuierlichen, permanenten gesetz- 
geberischen Ausschuß, eifert für die Rechts- 
gleichheit aller Staatsbürger, die Dezentralisierung 
der Gerichtshöfe. Er plädiert für Aufhebung der 
Todesstrafe, weil sie weder dem Staat noch dem 
Delinquenten von Nutzen sei. Ebenso ist er ein 
heftiger Gegner des Eides, sowohl des promis- 
sorischen wie des assertorischen, des Glaubenseides 
und Richtereides. Bentham sieht den Eid überhaupt 
als Quelle der Korruption an (I 40; V 318 
455). Sein ganzes Leben ist den „Reformen“ 
der Gesetze gewidmet. Er verfolgt die Männer 
der „alten Schule“, einen Hugo Grotius, Montes- 
quien, Beccaria, Heineccius, Blackstone, Hamilton, 
die Verteidiger des fürstlichen Absolutismus, wie 
Hobbes, die Apologeten der Privilegien, des offi-
	        
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