Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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genug gewesen, um den gläubigen Völkern jener 
Zeiten die Garantie für eine unbegrenzte Ver- 
mehrung zu geben. Auch ließen die entsetzlichen 
Verheerungen der Pest um die Mitte des 14. Jahrh., 
welche nach zuverlässigen Schätzungen die Hälfte 
der Bevölkerung Europas dahinraffte, ein rasches 
Neuanwachsen derselben im Interesse der Landes- 
verteidigung wie der einheimischen Volkswirtschaft 
als Notwendigkeit erscheinen. Bei einer so natür- 
lichen Fortentwicklung der Bevölkerung brauchten 
daher besondere bevölkerungspolitische Maßregeln 
seitens der Regierungen nicht getroffen werden; 
auch hat eine schriftstellerische Behandlung der Be- 
völkerungsfrage in irgendwie allseitiger und syste- 
matischer Weise während des ganzen Mittelalters 
nicht stattgefunden. Man findet von obrigkeitlichen 
Maßregeln zur Hebung der Bevölkerungszahl nur 
das Herbeiziehen von Kolonisten in neu kultivierte 
und eroberte Länder. 
Die Zeit, in welcher sich eine bevölkerungs- 
politische Tätigkeit der Staatsregierungen zu ent- 
wickeln begann, ist die Epoche des sich bildenden 
modernen Staates. Das Merkantilsystem, 
das vom 16. bis zum 18. Jahrh. in den leitenden 
Regierungskreisen maßgebend war, machte den 
Fürsten die Beschaffung von geeigneten Kräften 
zur Aufgabe, welche im Wetteifer der Staaten um 
die Vermehrung des Geldreichtums in ihren Ge- 
bieten die Manufakturtätigkeit und den Export- 
handel ihrer Länder mit ihrer Arbeit fördern 
konnten. Auch die zur Vergrößerung der Staaten 
geführten Kriege erheischten eine beträchtliche An- 
zahl kräftiger Streiter. Das Proletariat konnte 
aber für diese Zwecke nur in beschränktem Maß 
herangezogen werden, da es weder das geeignete 
Menschenmaterial zur Kriegführung zu stellen 
noch die verhältnismäßig teuren Manufakturpro- 
dukte in einer Zeit zu kaufen in der Lage war, wo 
noch die Naturalwirtschaft vorherrschend war, das 
Volk sich mit selbstgefertigten Stoffen kleidete und 
die junge Industrie vorwiegend für die reicheren 
Klassen bestimmte, gute Waren erzeugte. Die 
Herrscher jener Tage hatten daher ein berechtigtes 
Interesse daran, einerseits die gutsituierten Be- 
völkerungsschichten sich vermehren zu sehen, ander- 
seits aber dem Anwachsen des Pauperismus 
Schranken zu setzen. Es läßt sich daher während 
der Epoche, welche von den Ideen des Merkantil- 
spstems beherrscht wurde, eine zweifache Richtung 
in der Bevölkerungspolitik unterscheiden: man 
suchte in gewissen Fällen die Volksvermehrung 
zu begünstigen, in andern hingegen derselben sogar 
durch direktes Eingreifen vorzubeugen. In die 
Reihe der Maßregeln ersterer Art gehören die Be- 
günstigung früher Heiraten, die Prämiierung der 
Väter kinderreicher Familien, ja sogar positive 
Heiratsgebote. Eine Verordnung Ludwigs XIV. 
gewährte allen, die sich vor dem 20. Jahr ver- 
heirateten und 10 Kinder zeugten, die Befreiung 
von Staatsabgaben. Napoleon I. versprach jedem 
Familienvater, der sieben Knaben hätte, einen der- 
Bevölkerung. 
  
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selben auf Staatskosten erziehen zu lassen. Nach 
altem preußischen Herkommen erhielt jeder Vater 
bei der Geburt seines siebenten Sohnes auf sein 
Ansuchen um die königliche Patenschaft ein Ge- 
schenk des Königs. Sogar der große Pitt brachte 
im englischen Parlament eine Bill ein, um Haus- 
vätern mit zahlreicher Familie Vergünstigungen 
zuleil werden zu lassen. Noch im Jahr 1819 
gewährte der König von Sardinien jedem seiner 
Untertanen im Herzogtum Genua, der zwölf 
Kinder hatte, Freiheit von allen königlichen und 
Gutsabgaben. 
Viel einschneidender und einer eingehenderen 
Besprechung würdig sind die auf eine Beschrän- 
kung der Eheschließung gerichteten Regierungs- 
akte gegenüber der ärmeren Bevölkerung, nachdem 
der Staat in der ersten Hälfte des 16. Jahrh. die 
Reglung der Armenpflege selbst in die Hand 
genommen hatte. In Frankreich allerdings, 
wo die merkantilistischen Ideen, namentlich unter 
Colbert, zu vollster Herrschaft gelangt waren und 
die absolutistischen Tendenzen Ludwigs XIV. das 
ganze Staatsleben durchdrungen hatten, haben 
Ehekonsense irgendwelcher weltlicher Obrigkeiten 
zu keiner Zeit bestanden. Der Umstand, daß es in 
Frankreich keine staatliche, obligatorische Armen- 
fürsorge, wie in den deutschen Staaten, gegeben 
hat und auch jetzt noch nicht gibt, hat sicher den 
größten Einfluß in dieser Hinsicht geübt. Auch 
in Italien ist ein staatlicher Ehekonsens nie 
eingeführt worden, dagegen ist ein solcher in 
Deutschland in weitem Umfang zur Herr- 
schaft gelangt. Nachdem im 16. Jahrh. der Staat 
in vielen Ländern den Gemeinden die Armen- 
versorgungspflicht auferlegt hatte, wozu in den 
protestantisch gewordenen Gebieten das Fortfallen 
der großartig entwickelten Wohltätigkeit der Klöster, 
welche sich dieser Aufgabe im Mittelalter fast aus- 
schließlich und mit besonderer Pflichttreue unter- 
zogen hatten, einen dringenden Anlaß bot, machten 
die deutschen Staaten, insbesondere aber die süd- 
deutschen, die Eheschließung von einer seitens der 
Gemeinde zu erteilenden Erlaubnis abhängig, 
welche nur auf Grund des Nachweises, daß die 
Ehewerber eine Familie zu erhalten imstande 
seien, gewährt werden durfte. Auch katholische 
Staaten haben sich da in einen gewissen Gegensatz 
zu der konstanten Praxis der Kirche, welche die Ehe- 
schließungen stets begünstigte (Conc. Trid. sess. 
XXIV,.e. 9 deref.), gestellt. Die im Jahr 1616 
publizierten „Landrecht-, Polizei-, Gerichts- 
Malefiz= und andere Ordnungen der Fürsten- 
tümer Ober= und Niederbayern“ (Bd IV, Tit. 
XII, Art. 7) enthalten nicht nur strenge Bestim- 
mungen gegen das Heiraten junger Dienstboten, 
sondern beauftragen auch die Behörden der Städte 
und Märkte, „Heiraten von Personen, die ihre 
Nahrung ohne Beschwerde der andern Bürger 
nicht haben können“, nicht zu gestatten. Diese 
Bestimmungen wurden durch die 1770 und 1780 
erlassenen Bettelmandate noch verschärft. Es sollten
	        
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