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bringen und die Bevölkerung zu nötigen, sich auf
das Niveau der vorhandenen Subsistenzmittel zu
reduzieren.“
Dies sind im wesentlichen die Hauptsätze der
Malthusschen Bevölkerungstheorie, der, wie weiter
unten zu erörtern sein wird, noch immer zahlreiche
Anhänger huldigen. Es läßt sich nicht verkennen,
daß dieselbe manche wahre Elemente enthält.
Wenn man die starke Volksvermehrung, wie sie in
Europa im 19. Jahrh. sich vollzogen hat, der
Lebensmittelproduktion gegenüberstellt, so könnte
es allerdings den Anschein haben, als ob seit
langem eine Bewegung zur Ubervölkerung hin in
diesem Weltteil existiere, die sich nur aus dem
Grund bisher nicht in ungünstiger Weise fühlbar
gemacht hat, weil die enorm vervollkommneten
Transportmittel eine Fülle von Erzeugnissen eines
fast noch jungfräulichen Bodens dem Konsum der
Massen zu billigen Preisen zur Verfügung gestellt
haben. Auch sind in absehbarer Zeit größere
Kriegsbewegungen oder sonstige schlimme Ereig-
nisse, welche die Bevölkerung dauernd dezimieren,
nicht zu befürchten. Die Erfahrung hat bewiesen,
daß die Kriege nach Lage der Verhältnisse in un-
serer Zeit kürzer sind. Das Fortschreiten einer
gewissen allgemeinen Humanität ist nicht zu ver-
kennen. Außerdem sind die Fortschritte auf dem
hygienischen Gebiet gegen früher ganz gewaltige;
die Kraft der großen Epidemien scheint zu einem
guten Teil gebrochen. Bei einem großen Teil der
Bevölkerung Europas hat sich auch die Lebens-
haltung und soweit diesbezügliche Resultate der
historischen Forschung vorliegen, die durchschnitt-
liche Lebensdauer der Menschen nicht unbeträcht-
lich gehoben.
Wenn man aber auch die Richtigkeit der Mal-
thusschen Behauptung von der Zunahme der Sub-
sistenzmittel in arithmetischem Verhältnis und der
Tendenz der Bevölkerung, sich in geometrischer
Progression zu vermehren, soweit es sich um die
damaligen Verhältnisse Englands handelt,
in beschränktem Umfang zugeben kann, so ist die
von ihm als allgemeines Gesetz aufsgestellte
Bevölkerungstheorie nicht haltbar, weil sie teil-
weise von unzütreffenden Voraussetzungen ausgeht.
Die Menschheit wird von so mannigfachen Im-
pulsen, je nach der Verschiedenheit der natürlichen
Beschaffenheit der Länder, der Rasseneigentümlich-
keiten ihrer Bewohner, der politischen, wirtschaft-
lichen, sozialen und vor allem der religiösen Ver-
hältnisse beherrscht, daß die Eheschließungs= und
viel mehr noch die Geburtenziffer in hohem Grad
davon beeinflußt werden. Die wirtschaftliche Vor-
sicht hat zu allen Zeiten weite Kreise beherrscht,
sowohl in sehr religiösen, streng sittlichen als auch
in solchen, welchen man übertriebenen Luxus und
sittliche Erschlaffung verbunden mit Erkaltung der
Religiosität vorzuwerfen pflegt. Verständige Men-
schen werden sich stets überlegen, ob sie zur Ehe
schreiten sollen; sie werden sich fragen, ob sie an
die nötigen Mittel haben, um ihre Kinder anständig
Bevölkerung.
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zu ernähren und zu erziehen, damit sie nicht dem
Elend und den damit verbundenen sittlichen Ge-
fahren zum Opfer fallen. In den Epochen eines zu-
nehmenden Luxus und einer hohen Entwicklung der
äußeren Kultur hingegen werden sich viele durch
übertriebene Sorge, daß sie sich manche Genüsse
versagen müßten, wenn sie sich verheiraten, von
der Eingehung einer Ehe zurückschrecken lassen.
Bedenkliche Zustände herrschen in dieser Richtung
seit Jahrzehnten in Frankreich, wo trotz des großen
Wohlstands, dessen sich das Land, mit Ausnahme
einiger Krisenepochen, seit langem zu erfreuen hatte,
die Bevölkerung, wie die oben mitgeteilten Ziffern
unwiderleglich dartun, sich in geringem Maßstab
vermehrt bzw. zurückgeht. Jedenfalls ist die Mal-
thussche Doktrin durch diese in offenem Widerspruch
mit ihr stehenden Tatsachen, welche mit dem Steigen
des Wohlstands eine stets schwächer werdende Zu-
nahme der Bevölkerung zur unliebsamen Folge ge-
habt haben, entschieden widerlegt. — Es muß
ferner auch anerkannt werden, daß das 19. Jahrh.,
welches im allgemeinen eine gewisse Bewegung zur
Übervölkerung hin zeigt, eine Epoche unerhörter
wirtschaftlicher Entwicklung war. Es ist zweifel-
los, daß sich die Erwerbsgelegenheiten in der mo-
dernen Zeit ungemein vermehrt und den Import
vieler überseeischer Nahrungs= und Genußmittel
in einem bisher nicht gekannten Umfang möglich
gemacht haben. Auch die europäische Landwirt-
schaft und Viehzucht ist infolge eines rationelleren
Betriebs wie durch weitere Ausdehnung erheblich
ertragsfähiger geworden und wird auch in Zukunft
bei der ständigen Vervollkommnung der technischen
Betriebsmittelnoch beträchtliche Fortschriltemachen.
Sollte aber einmal ein definitiver Stillstand im
Erwerbsleben auf lange Zeit hinaus eintreten,
so darf erwartet werden, daß die Menschheit durch
weise Maßregeln der Regierungen und verstän-
diges Eingreifen der berufenen Kreise vor schreck-
lichen Krisen, vor Hungersnot, sozialen Umwäl-
zungen und Kriegen wird bewahrt werden können.
Ob dies der Fall sein wird, oder die von Malthus
als notwendige Repressivmittel bezeichneten Fak-
toren des Lasters und Elends ihre schreckliche Auf-
gabe erfüllen müssen, wird von dem Grad des
Pflichtgefühls und dem religiösen Ernst abhängig
sein, der die herrschenden wie die dienenden Klassen
erfüllt. Wenn die Familienbande im Bürger-
und Bauernstand so stark entwickelt sind, daß auch
unverheiratete Geschwister im Haus der Familie
eine behagliche, für die Ehe Ersatz bietende Stätte
finden, wie dies früher regelmäßig der Fall war;
wenn der Geist der Selbstbeherrschung neben einer
genügenden, die Einsicht in die wirtschaftlichen
Grundgesetze gewährenden Bildung weite Volks-
kreise erfüllt; wenn der Dienst der Religion und
der christlichen Charitas zahlreiche Personen zu
einem ehelosen Leben beruft, und der Staat durch
den Ernst einer sittlich-religiösen Erziehung, welche
ch er in den Schulen der heranwachsenden Jugend
angedeihen läßt, durch die Ausübung einer zweck-