Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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wohl aber eine solche der technischen Geschicklich- 
keit und der Geisteskräfte. Weniger äußere Ge- 
fahr als der Mangel an Subsistenzmitteln werde 
den Menschen zur Entwicklung antreiben. Da- 
durch würden vornehmlich die geistigen Fähig- 
keiten, Geschicklichkeit und Selbstbeherrschung, aus- 
gebildet und auf diese Weise zugleich die Auf- 
findung neuer Unterhaltsquellen erleichtert. Zu- 
gleich werde aber diese geistige Entwicklung der 
Menschheit eine Verminderung der Fruchtbarkeit 
zur Folge haben; denn es sei erwiesen, daß die 
Entwicklung der Gehirnmasse die geschlechtliche 
Reife hinausschiebe und daß die von dem Erwerb 
höherer Bildung unzertrennliche Anstrengung der 
geistigen Tätigkeit die menschliche Fruchtbarkeit 
vermindere. Der nämlichen Ansicht ist auch Trall: 
„Eine neue Bevölkerungstheorie, hergeleitet aus 
dem allgemeinen Gesetz tierischer Fruchtbarkeit" 
(1879), und Reich: „Die Fortpflanzung und Ver- 
mehrung der Menschen“ (1880). 
Ferner sollen noch einige Schriftsteller Beach- 
tung finden, die, wenn sie auch untereinander über 
die Bevölkerungsfrage verschiedener Ansicht sind, 
doch darin übereinstimmen, daß sie der menschlichen 
Vorsicht einen weitgehenden Einfluß auf die Be- 
völkerungsbewegung einräumen. Zu dieser Kate- 
gorie ist zunächst Bastiat zu zählen, der folgendes 
behauptet: La population tend àse mettre au 
niveau des moyens de subsistance. Mais ces 
moyens, sont-is une chose fixe, absolue, 
uniforme? Non, certainement. Denn der 
Kreis der menschlichen Bedürfnisse dehne sich ohne 
Grenzen immer weiter aus (ogl. Harmonies éco- 
nomiques /Par. 101898)). Dieser entschiedenen 
Betonung des vernünftigen Eingreifens der Men- 
schen in die Gestaltung der Verhältnisse kann man 
nur beistimmen und mit einer gewissen Vorsicht 
auch den weiteren Schluß akzeptieren, den Bastiat 
aus seiner Anschauung zieht: Lihomme aspire 
au perfectionnement, le progres est son état 
normal, le progrèes implique un usage de plus 
en plus 6clairé de la limitation préventive: 
donc les moyens d’existence s'accroissent 
Plus vite due la population. Ce résultat est 
Confirme par le fait, puisque partout le cercle 
des satisfactions s’est étendu. In ähnlichem 
Sinn führt auch Rümelin (Reden und Auf- 
sätze (18751) aus, daß jedes Kulturvolk die Ten- 
denz habe, sein Einkommen schneller als sich selbst 
zu vermehren und die Differenz zwischen der Ver- 
mehrung der Bevölkerung und derjenigen der Sub- 
sistenzmittel zu vergrößern. Diese Ansichten sind 
zutreffend, wenn man diese Erscheinungen als 
das Normale bezeichnet und nicht ein bestimmtes 
Gesetz daraus herleitet und sofern man nicht 
unter den Subsistenzmitteln die Mittel zur Be- 
friedigung eines übertriebenen Luxus mitbegreift. 
Als letzter Autor auf dem Gebiet der Bevölke- 
rungstheorie sei noch der katholische sozialpolitische 
Schriftsteller Ratzinger erwähnt, der in seiner 
„Volkswirtschaft in ihren sittlichen Grundlagen“ 
Bevölkerung. 
  
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(21895) an verschiedenen Stellen sich auch mit 
diesen Problemen beschäftigt. Er hebt besonders 
die Wichtigkeit der richtigen Verteilung des Volks- 
einkommens hervor und glaubt, daß in der Gegen- 
wart von einer Übervölkerung keine Rede sein 
könne, sondern daß die herrschenden Mißstände 
auf sozialem und wirtschaftlichem Gebiet in dem 
einseitigen Uberwuchern des Kapitalismus und der 
schlechten Entlohnung der arbeitenden Klassen 
ihren Grund hätten. Außerdem wird von Rat- 
zinger auf die hohe Bedeutung der Jungfräulich- 
keit, welche die Kirche stets in Ehren hielt, hin- 
gewiesen und der wohltätigen Wirkungen der Ge- 
nügsamkeit und eines auf die höheren Dinge ge- 
richteten Sinnes gedacht, welcher, mit bescheidenem 
Auskommen zufrieden, zahlreichen Menschen ge- 
nügende Existenzbedingungen ermögliche. Es ist 
dies alles von Ratzinger zwar sehr schön aus- 
gedacht, aber leider unmöglich, bei der Unvoll-= 
kommenheit der menschlichen Natur einen wirklich 
befriedigenden, den Gesetzen der christlichen Ge- 
rechtigkeit und Moral vollkommen entsprechenden 
sozialen Zustand herbeizuführen. Die Gefahr 
einer Übervölkerung gewisser Länder, namentlich 
Deutschlands und Englands, kann bei der Weiter- 
entwicklung in dem bisherigen Tempo nicht in 
Abrede gestellt werden, zumal der Export beider 
Staaten von der mächtigen Konkurrenz Japans 
und der Vereinigten Staaten von Amerika bedroht 
wird. Es kann somit nicht zu unbedingter Stei- 
gerung des Bevölkerungszuwachses geraten werden. 
Aus allem, was bisher über die Bevölkerungs- 
theorien gesagt und geschrieben wordenist, ergibt sich 
sonach das eine, daß ein allgemein gültiges Bevöl- 
kerungsgesetz, welches die Zu= oder Abnahme 
der Population regulieren würde, nicht aufgestellt 
werden kann. Denn der Mensch ist ein mit freiem 
Willen ausgestattetes Wesen, und nach dem Maß 
der Einsicht in seine Pflichten wird er auch bei 
der Gründung und Vermehrung seiner Familie 
vorgehen. Auf der andern Seite aber üben auch 
die ihn umgebenden Verhältnisse einen mehr oder 
minder bestimmenden Einfluß auf ihn aus. In 
Zeiten des allgemeinen Wohlstands, wo ihm durch 
die Erlangung einer sichern und dauernden Arbeits- 
gelegenheit die Möglichkeit zur Schaffung einer 
auskömmlichen Existenz leichter gegeben ist, wird 
er sich eher zur Verehelichung entschließen können 
als in Zeiten einer wirtschaftlichen Stockung oder 
Krisis. In solchen Perioden wird ein jeder, der 
nicht mit genügendem ererbtem Vermögen aus- 
gestattet oder eine gesicherte Erwerbsgelegenheit 
besitzt, sich fragen müssen, ob er wirklich imstande 
ist, eine Familie unterhalten zu können, oder ob 
er die moralische Kraft besitzt, gegebenenfalls 
mutig die Widerwärtigkeiten und Entbehrungen 
der Armut zu ertragen. Zahlreiche Menschen 
haben sich diese Frage stets gestellt und ver- 
nünftig beantwortet und werden dies auch in 
Zukunft tun. Die in neuester Zeit von einer 
Reihe der bedeutendsten Bevölkerungspolitiker und
	        
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