Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Beurteilung vieler geschichtlicher Tatsachen außer- 
ordentlich erschwert wird. Erst das 19. Jahrh. 
hat mit der Ausbildung seiner wirtschaftlichen 
Erkenntnis immer mehr die Notwendigkeit ge- 
nauer statistischer Grundlagen in dieser Beziehung 
gefühlt und die Zählungen speziell der Geburten, 
Heiraten und Sterbefälle in immer vollkommenerer 
Gestalt ausgeführt. Wenn der Staat, wie es in 
den meisten Kulturländern seit Jahrzehnten ge- 
schieht, genauer den Stand der Bevölkerung ver- 
folgt, also periodische Volkszählungen veranstaltet, 
Erhebungen über den Berufsstand seiner An- 
gehörigen, den Fortschritt oder Rückgang der 
Volkszahl wie des Wohlstands im Lande vor- 
nimmt und nach diesen Ergebnissen seine zweck- 
dienlichen Maßnahmen trifft, so werden sich auch 
stets die geeigneten Mittel und Wege finden lassen, 
um den Bevölkerungsnachwuchs angemessen zu ver- 
werten und zu unterhalten. 
Nur eines ist noch vom Standpunkt der katho- 
lischen Doktrin wie von dem der natürlichen Ach- 
tung der Menschenwürde nachdrücklich zu be- 
tonen: direkte Eingriffe in diese intimsten Ver- 
hältnisse des menschlichen Lebens sind zu vermei- 
den. Wie von einem Verehelichungsgebot ver- 
nünftigerweise nicht die Rede sein kann, da manche 
Menschen zur Ehe nicht geeignet sind und auch 
bestimmte sonstige Verhältnisse, Rücksichten auf 
die Familie u. dgl., die Ehe als für den Betreffen- 
den nicht geraten erscheinen lassen können, so hat 
sich die staatliche Gewalt auch der Eheverbote 
zu enthalten. Es haben sich zwar sehr achtbare 
und auch katholische Stimmen vor Zeiten 
aus ökonomischen und sozialen Gründen für das 
staatliche Eingreifen in diese Materie erklärt: 
aber die von denselben angeführten Gründe sind 
keineswegs stichhaltig. Zunächst würde die Wir- 
kung des Ehekonsenses inwirtschaftlicher Hinsicht 
nur eine unbedeutende sein. In Oberösterreich 
liegt ein Beispiel in dieser Hinsicht vor: von 489 
Gemeinden dieses Landes sprachen sich 477 für 
die Einführung des Ehekonsenses aus. Aber nur 18 
unter ihnen vermochten Fälle namhaft zu machen, 
in denen ganz erwerbs= und vermögenslose Per- 
sonen zur Ehe geschritten waren. Sodann aber, 
selbst wenn eine erhebliche Minderung des über- 
mäßigen Anwachsens gewisser Volksschichten da- 
von erwartet werden könnte, dürfte sich solche 
Einschränkung der persönlichen Freiheit dennoch 
nicht rechtfertigen lassen. Wir sind mit dem Mo- 
ralisten P. Lehmkuhl 8. J. vollständig einverstan- 
den, wenn er das Recht der Verehelichung als ein 
der menschlichen Natur so tief eingepflanztes er- 
klärt, daß er demselben gegenüber dem Interesse 
der bürgerlichen Gesellschaft an der Nichtvermeh- 
rung der von ihr zu bestreitenden Armenlasten den 
Vorrang einräumt und in dieser Hinsicht das 
Recht aller Menschen auf den Gebrauch der ihnen 
von Gott zur Benutzung überwiesenen irdischen 
Güter betont. Wo es sich darum handelt, den 
ohnedies wenig begünstigten Armen die Haltung 
Bevölkerung. 
  
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des Sittengesetzes wesentlich zu erleichtern, indem 
man ihnen die legale Befriedigung eines der 
stärksten natürlichen Triebe wie den übrigen Mit- 
menschen gestattet, kann ein Zweifel an dem Über- 
wiegen des Gemeininteresses über dasjenige des 
besitzenden Individuums nicht als berechtigt an- 
erkannt werden. Auch wird der Staat dabei nicht 
einmal schlecht fahren, da illegitime Kinder in weit 
höherem Grad die Gesellschaft durch ihre vernach- 
lässigte Erziehung bedrohen als eine beträchtlich 
größere Anzahl selbst sehr armer ehelicher Spröß- 
linge, denen, wenigstens in den meisten Fällen, 
eine bessere Erziehung gesichert ist. In jedem Fall 
hat hier aber die christliche Charitas und die staat- 
liche und kommunale Wohlfahrts-- und Armen- 
pflege für die nötige Erziehung des armen Jugend- 
nachwuchses Sorge zu tragen. Sollte einmal 
wirklich eine Ubervölkerung in einem Land ein- 
treten und auch eine ausgiebige Auswanderung 
aus demselben zur Unmöglichkeit werden, oder 
sollte einmal sogar die Gefahr einer Übervölke- 
rung der gesamten Erde in greifbare Nähe gerückt 
sein, so könnte eine gesetzliche Beschränkung der 
Verehelichungsfreiheit wohl in Frage kommen. 
Vorderhand liegt aber kein Anlaß vor, welcher 
den Ehekonsens, der sicher nicht im Geist der 
katholischen Kirche ist, rechtfertigen könnte. 
Die deutschen Gelehrten unserer Tage sind 
in der Frage der staatlichen Einmischung in die 
Bevölkerungsverhältnisse und insonderheit in die 
Freiheit der Verehelichung geteilter Ansicht. Wäh- 
rend Lorenz von Stein in seiner „Verwaltungs- 
lehre“ (7 Tle, 1865/68, II) von einer speziellen 
Bevölkerungspolitik überhaupt nichts mehr wissen 
will, sondern alles nur von einer guten Verwal- 
tung im allgemeinen erwartet, folglich entschieden 
gegen den Ehekonsens sich ausspricht, und während 
auch Schäffle (Bau und Leben des sozialen Körpers 
[4 Tle, 21896)) sich gegen die Beschränkung der 
Eheschließungen der Mittellosen erklärt und Abhilfe 
gegen eine etwaige Ubervölkerung von einer gleich- 
mäßigeren Einkommensverteilung erhofft, verlangt 
der Sozialist Marlo (System der Weltökonomie 
I4 Bde, 21884/86), daß der Verehelichung obli- 
gatorisch die Versicherung der Frau und der Kin- 
der vorausgehen soll — eine kaum durchführbare 
Vorsichtsmaßregel, da die Zahl der letzteren vor- 
her nicht angegeben werden kann. Roscher, der die 
Bevölkerungslehre im 5. Buch seiner „Grundlagen 
der Nationalökonomie“ (211906) behandelt, ver- 
spricht sich keinen Erfolg von Verehelichungs- 
beschränkungen, sondern erwartet alles von der 
Belehrung und der Steigerung der Lebensbedürf- 
nisse der Bevölkerung, welche die Heiratslustigen 
mehr und mehr veranlassen werde, sich nur dann 
zu verehelichen, wenn ihnen ein behaglicheres 
Leben in sicherer Aussicht stände. Roscher erachtet 
allein die Festsetzung eines bestimmten, nicht zu 
niedern Alters als Bedingung der Eheschließung 
für Männer als wirksame staatliche Maßregel, 
während Robert v. Mohl in seiner „Polizeiwissen- 
 
	        
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