Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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sei, welcher Teil seine Behauptungen durch Eid 
unwiderleglich erhärten dürfe. Somit ist der Be- 
weis nach deutschem Recht nicht eine Last, sondern 
ein Recht; als eine Gunst wird er dem zuteil, welcher 
als Angegriffener ein Gut zu verlieren im Begriff 
ist. — Ganz anders nach römischem, kanonischem 
und gemeinem deutschem Prozeßrecht. Hier tritt 
Behauptung und Verneinung der Partei gänzlich 
zurück vor der Überzeugung des Richters von der 
Wahrheit einer Tatsache, so daß der Beweis nicht 
eine Gunst, sondern eine Last wird, nämlich die 
Pflicht, den Richter von der Wahrheit der behaup- 
teten Tatsache durch beigebrachte Beweismittel zu 
überzeugen. Die Beweislast aber bezüglich einer 
Behauptung trifft den, welcher sie im Urteil be- 
rücksichtigt haben will. Somit fällt die Frage nach 
der Beweislast zusammen mit der Frage nach der 
Behauptungslast, mit der Frage, welche tatsächliche 
Voraussetzungen von einer Partei behauptet wer- 
den müssen, wenn sie genügen sollen, um einen 
Anspruch zu erzeugen oder zu zerstören. Für Be- 
antwortung dieser Frage aber gibt einzig und 
allein das Zivilrecht die entscheidenden Normen. 
Hier mögen folgende Bemerkungen genügen. In 
erster Linie hat der Kläger bei Widerspruch des 
Beklagten diejenigen Tatsachen zu beweisen, an 
welche das Recht den von ihm geltend gemachten 
Anspruch anknüpft: Semper necessitas pro- 
bandi incumbit illi qui agit (Il. 21 D. de pro- 
bationibus 22, 3); hierbei braucht er nur die un- 
mittelbaren Entstehungstatsachen des eingeklagten 
Rechts darzutun. Gelingt ihm aber dieser Beweis 
nicht, so wird ohne weitere Tätigkeit des Beklagten 
die Klage abgewiesen: Actore non probante 
reus absolvitur (ef. 1. 4 C. de edendo 2, 1). 
Hat aber der Kläger seine Beweispflicht erfüllt, 
oder ist er, weil der Beklagte seinen Behauptungen 
nicht widersprochen, der Beweislast enthoben, so 
hat nun der Beklagte, wenn er gleichwohl den 
Anspruch des Klägers bestreiten will, seinerseits 
die Aufhebung des einmal entstandenen Rechts in 
der Folgezeit oder das Vorhandensein besonderer 
Hindernisse, welche den erwiesenen Tatsachen ihre 
regelmäßige Wirkung benehmen, zu behaupten und 
zu beweisen: In exceptionibus dicendum est 
reum partibus actoris fungi oportere ipsum- 
due exceptionem velut intentionem implere 
(I. 19 pr. D. de prob. 22, 3). Es läßt sich somit 
der Grundsatz der Beweislast kurz dahin formu- 
lieren: Jede Partei muß die noch ungewissen Tat- 
sachen beweisen, welche unmittelbar zur Begrün- 
dung eines von ihr unternommenen selbständigen 
Angriffs oder Gegenangriffs notwendig sind, 
wobei es gleichgültig ist, ob diese Tatsachen be- 
jahenden oder verneinenden Inhalt haben. 
Um nun dieser Aufgabe genügen zu können, 
bedürfen die Parteien der Beweismittel. Für 
die Frage, welche Beweismittel vor Gericht zuzu- 
lassen sind, und insbesondere für die Frage ihrer 
Verwendung und Verwertung ist natürlich die Art 
des ganzen Prozeßrechts von entscheidender Be- 
Beweis. 
  
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deutung. — Dergermanische Prozeß kennt in seiner 
älteren Gestalt in Übereinstimmung mit seinem 
förmlichen Charakter nur drei Beweismittel, näm- 
lich: 1) die unmittelbare Sinneswahrnehmung des 
Richters, 2) das Gerichtszeugnis, indem sich die 
Partei auf das beruft, was früher vor demselben 
Gericht geschehen ist, und 3) den Eid der Partei: 
die formelle Abgabe der entscheidenden Versicherung 
vor dem Gericht; der Eid bildet den eigentlichen 
Schwerpunkt des deutschen Beweises. Abgesehen 
von den Gottesurteilen, die im Sachsenspiegel 
wohl nur mehr als Erinnerung an die Vorzeit 
Erwähnung finden, kennt somit das altdeutsche 
Recht nur zwei Beweggründe, das sind Gründe, 
aus denen eine von den Parteien zu beweisende 
faktische Behauptung vom Gericht als wahr an- 
zunehmen ist, nämlich „das eigene Wissen der 
Gerichtsversammlung infolge eigener sinnlicher 
Wahrnehmung“ und die „feierliche Versicherung 
der Partei“. Dagegen kann die eigene Über- 
zeugung des Gerichts bezüglich der Wahrheit einer 
Tatsache die entgegengesetzte Behauptung einer 
Partei nicht überwinden, wenn sie nicht auf eigener 
Sinneswahrnehmung beruht. Daher bezweckt im 
germanischen Gerichtsverfahren der Beweis nicht 
die Überzeugung der Gerichtsversammlung von 
der Wahrheit oder Unwahrheit einer Tatsache, 
sondern er ist lediglich die Erfüllung der vorge- 
schriebenen Form. Erst in späterer Zeit gewinnt die 
eigene Uberzeugung des Richters mehr Bedeutung 
für das Urteil, und damit erhalten auch andere 
Beweismittel die Eigenschaft, dem Richter einen 
Beweisgrund für seine Urteilsfindung zu liefern, 
so namentlich die Zeugen, die Urkunden und das 
Urteil von geschworenen Sachverständigen. In 
demselben Maß, als die Überzeugung des Gerichts 
zum genügenden Grund für die Entscheidung der 
Streitsache wurde, verminderte sich die Bedeutung 
des Parteieneides; er wurde zum Beweismittel für 
den Gegner, der es auf den Eid des Gegners an- 
kommen lassen konnte, wenn er zur Erhärtung der 
Wahrheit seiner Behauptungen kein anderes wirk- 
lich überzeugendes Beweismittel zur Verfügung 
hatte. — Anders gestaltet sich der Beweis des 
römisches Prozesses infolge der von der germani- 
schen Auffassung abweichenden Stellung der Par- 
teien zum Gericht. Beweisgrund ist alles, was auf 
die Überzeugung des Richters von der Wahrheit 
oder Unwahrheit einer tatsächlichen Behauptung 
von Einfluß sein kann (I. 3 § 2 D. de testibus 
22, 5), und demgemäß ist auch die Zahl der Be- 
weismittel durch Gesetz nicht beschränkt; der Richter 
ist bei Abfassung des Urteils auch an den Eid der 
Parteien nicht weiter gebunden, als er durch dessen 
Leistung tatsächlich überzeugt ist. Im romanischen 
Prozeß sind die Grundsätze des römischen Rechts 
in dieser Hinsicht fast ungeändert geblieben; die 
Doktrin bringt aber die Beweismittel in verschie- 
dene Kategorien, indem sie unterscheidet: 1) evi- 
dentia facti, worunter richterlicher Augenschein 
und Gerichtskundigkeit verstanden wird, 2) fama,
	        
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