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sich also der Charakter des altdeutschen Prozesses
noch erhalten. Ist die Beweisaufnahme, bei
welcher die Parteien berechtigt sind, zugegen zu
sein, vollendet, so haben sie in der folgenden
Schlußverhandlung dem Richter den ganzen Pro-
zeßstoff unter Einfügung des Ergebnisses der Be-
weisführung vorzutragen, worauf, wenn nicht
neue Beweise angeboten werden, der Richter nach
dem Ergebnis der gesamten Verhandlung das Ur-
teil verkündet. (Vgl. d. Art. Zivilprozeß.)
Literatur. Collmann, Grundlinien einer
Theorie des B. im Zivilprozeß (1822); Bethmann-
Hollweg, Handbuch des Zivilprozesses I (1834);
Planck, Die Lehre vom Blrurteil (1848); Ende-
mann, Die Bl.lhre des Zivilprozesses (1860);
Langenbeck, Die B.führung in bürgerl. Rechtsstrei-
tigkeiten, 3 Abt. (1858/61); Wetzell, System des
ordentl. Zivilprozesses (21863) § 20f; München,
Das kanonische Gerichtsverfahren (1865); Planck,
Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter
(1879). Für das geltende Prozeßrecht: Bolgiano,
Reichszivilprozeßrecht (1879) 467ff; Hellmann,
Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts (1885);
Planck, desgl. (1887 u. 1896); Canstein, Lehrbuch
des österreich. Zivilprozeßrechts (21893); Die Kom-
mentare zur Zivilprozeßordnung; Holtzendorff,
Enzyklopädie der Rechtswissenschaft (61904); ders.,
Rechtslexikon (I1880) 363 f; Reinhold, Die Lehre
vom Klaggrund usw. (1888); Fitting, Die Grund-
lagen der Bllast (1889); Betzinger, Die Bllast im
Zivilprozeß (1894/1904); Beckh, Die Bllast nach
dem B. G. B. (1899); Kreß, Lehre von der Blast
nach dem B.G.B. (1900); Wach, Die Bllast nach
dem B. G. B. (1901); Leonhard, Die Blast (1904);
Stein, Das private Wissen des Richters (1893);
Zeitschr. für deutschen Zivilprozeß, hrsg. von Busch
(1878 ff, insbes. 1889).
II. Beweis im Strafprozeß. Das Straf-
verfahren wird in viel bedeutenderem Maß als
das Zivilverfahren von der Kulturentwicklung eines
Volks bedingt. Religiöse und politische Anschau-
ungen, welche im vermögensrechtlichen Verkehr nur
entfernten Einfluß üben, wirken bestimmend auf
die Gestaltung des Strafrechts und des Straf-
prozesses ein, so daß das Strafverfahren weit mehr
Schwankungen unterliegt als der Zivilprozeß.
Dies zeigt sich auch im hohen Grad bei der Fest-
stellung der Schuld des Angeklagten, bei dem Be-
weis des strafrechtlichen Anspruchs gegen ihn. —
Das germanische Strafverfahren gestattete dem
Angeklagten die Reinigung von der Anklage durch
den Unschuldseid, den er allein oder mit Eides-
helfern ablegen mußte, welche ihr Zutrauen in die
Wahrhaftigkeit des Angeklagten erhärteten: es
schien undenkbar, daß jemand, um einer wenn
auch schweren Strafe zu entgehen, sich zu einem
Meineid entschließen könnte, ebenso, daß er die
genügende Zahl von Eideshelfern (die ja nur aus
seinen Genossen, also Leuten, welche mit seiner
Person und seinen Verhältnissen wohl bekannt
waren, genommen werden durften) finden würde,
wenn nicht sein eidlich gegebenes Wort wirklich
Vertrauen verdiente. Hatte er aber den Glauben
hieran bei seinen Volksgenossen bereits eingebüßt,
Beweis.
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so konnte er nur an den appellieren, der sein Herz
genauer zu prüfen imstande war als seine Stammes-
brüder: er konnte nur durch Gottesurteil sich von
der Anklage reinigen; in dem Ausgang der Probe
glaubte man ein Eingreifen Gottes für oder gegen
die Glaubwürdigkeit des Beklagten zu erkennen.
Durch die Zulassung zum Reinigungseid war des
Angeklagten Stellung im Prozeß eine für uns fast
unverständliche; von dem „armen Sünder“, dem
„Opfer der Gerechtigkeit“ der späteren Jahrhun-
derte ist im altgermanischen Verfahren nichts zu
bemerken. Nur wenn der Ankläger gleichen oder
höheren Standes war wie der Angeklagte, konnte
er dem Reinigungseid desselben zuvorkommen,
indem er ihn zum gerichtlichen Zweikampf heraus-
forderte; sein Ausgang, mochten ihn die Parteien
selbst oder durch Kämpen ausgefochten haben,
lieferte dem Gericht bindenden Beweis für die
Wahrheit oder Unwahrheit der widerstreitenden
Behauptungen: eine Erscheinung, die nur durch
den Glauben der damaligen Zeit sich erklären
läßt, daß Gott in dem entscheidenden Kampf
des Lügners Arm schwach und kraftlos werden
lasse, mag er auch sonst sich hoher Körperkräfte
rühmen können, und daß des Schwachen Arm durch
Gottes Hilfe jeden Gegner überwinden könne.
Die Gunst des Unschuldseides wurde dem Ange-
klagten aber nicht zuteil, wenn er auf handhafter
Tat, das heißt bei Begehung der Tat ergriffen
und unverweilt vor Gericht gebracht wurde; leug-
nete er hier seine Tat, so ward der Ergreifer und
Ankläger zum Beweis der Schuld durch seinen
Eid, eventuell mit Eideshelfern, zugelassen. Sohin
kannte der altdeutsche Prozeß als Beweiemittel
nur den Eid, den gerichtlichen Zweikampf und das
Gottesurteil, und der Beweis war auch hier wie
im Zivilprozeß nur die Erfüllung der gesetzlich
vorgeschriebenen Form. — Ein ganz verschiedenes
Bild zeigt uns der römische Strasprozeß. Das
römische Recht überläßt es den Parteien, die Be-
weismittel herbeizuschaffen, wenn es ihnen darum
zu tun, den Richtern eine gewisse Uberzeugung bei-
zubringen; es kommt aber als Beweismittel in
Betracht alles, was logisch diesem Zweck zu dienen
geeignet ist; hierbei darf man aber nicht außer
acht lassen, daß der römische Strafprozeß wesent-
lich einen politischen Charakter an sich trägt, so
daß das Bemühen der Parteien auch darauf ge-
richtet ist, den Richter durch Erregung seines Mit-
gefühls, durch Befriedigung seiner Eitelkeit, Ver-
dächtigung des Gegners und Geltendmachung po-
litischer Rücksichten sich günstig zu stimmen. So
erscheinen als Beweismittel neben den Zeugen auch
schriftliche Aufzeichnungen und Urkunden und be-
sitzen die Indizien eine große Bedeutung für den
Schuldbeweis des Angeklagten. Eigentümlich ist,
daß auch die Vernehmung der beeidigten Zeugen
in der Hand der Parteien war, wenn nicht die
richtige Aussage durch die Folter erzwungen werden
sollte, eine der traurigsten Verirrungen der Ge-
schichte, die anfangs nur bei Sklaven zur Verwen-