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Büchersammlungen zählen, sind einzuteilen nach
ihren örtlichen Aufgaben in Landes-, Provinzial-
und Kommunalbibliotheken; nach ihren sachlichen
Aufgaben in allgemeine und Sonderbibliotheken.
Die öffentlichen allgemeinen Bibliotheken sammeln
grundsätzlich Bücher aus allen Gebieten mensch-
lichen Wissens und Könnens, die Sonderbiblio-
theken wenden sich mehr oder weniger ausschließ-
lich Einzelaufgaben zu. Landes= und Provinzial-
bibliotheken werden in der Regel allgemeine sein,
den Sonderbibliotheken dagegen müssen die meisten
mit Kirchen, Klöstern, Unterrichtsanstalten, Be-
hörden und andern Körperschaften in Verbindung
stehenden Büchersammlungen zugezählt werden,
soweit sie nicht, wie die Mehrzahl der deutschen
Universitätsbibliotheken, auch die Stelle von Pro-
vinzialbibliotheken ausfüllen. Die Stadtbiblio-
theken nehmen gewöhnlich eine vermittelnde Stel-
lung zwischen allgemeinen und Sonderbibliotheken
ein, sofern in ihnen zwar die meisten menschlichen
Wissensgebiete, aber unter Weglassung wissen-
schaftlicher Spezialliteratur vertreten sind.
Geschichte. Die Vergangenheit der Bi-
bliotheken kann hier nur berührt werden, soweit sie
in gegenwärtigen Zuständen noch fortlebt. Das
Altertum ist in dieser Hinsicht bedeutungslos, hin-
gegen sind die Schätze der einst unter kirchlicher
Obhut stehenden, heute meist säkularisierten Bi-
bliotheken des Mittelalters wichtige und an Wert
immer noch steigende Bestandteile der großen
Büchersammlungen der Gegenwart geworden. —
Die Entstehung der ersten öffentlichen Bi-
bliotheken ist sowohl zeitlich wie ursächlich an die
allmähliche Laisierung der Wissenschaft im späteren
Mittelalter gebunden. Das früheste Beispiel einer
öffentlichen Bibliothek ist die 1444 von Cosimo
de' Medici in Venedig gegründete Bibliotheca
Marciana; viel später erst folgten weitere Grün-
dungen hervorragender öffentlicher Büchersamm-
lungen: die Bibliotheca Bodleiana in Oxford
1602, Mazarine in Paris 1643, die kurfürstliche
Bibliothek in Berlin 1661, die Universitätsbiblio-
thek zu Göttingen 1735 und die des Britischen
Museums 1759. Im Jahr 1735 wurde auch die
Bibliothek des Königs, heute Bibliothèeque Na-
tionale, zu Paris der Offentlichkeit zugänglich.
Die geschichtliche Vergangenheit bedingt einen
zweifachen Typus unserer modernen Bibliotheken,
dem die folgende Scheidung in solche der Alten
und der Neuen Welt entspricht.
3. Die Alte Welt. Italien ist als frü-
hestes abendländisches Bildungszentrum auch jetzt
noch Hüterin der reichsten Bildungs= und Bücher-
schätze des Mittelalters, vor allem durch die Hand-
schriftensammlung der 1447 gegründeten, jetzt
halböffentlichen Vatikanischen Bibliothek. Über
diese in der Vergangenheit liegende Bedeutung
hinaus aber können die öffentlichen Büchersamm-
lungen Italiens, obschon 1875 durch Einziehung
vieler Hunderte von Klosterbibliotheken vermehrt,
trotz der Rührigkeit ihrer Bibliothekare und dem
Bibliotheken.
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hohen Interesse, das Gelehrtenwelt und Regierung
ihnen entgegenbringen, doch nicht in Wettbewerb
mit den reicher dotierten Anstalten der nördlichen
Kulturstaaten treten. Traurig steht es mit den
panischen öffentlichen Bibliotheken. Im Be-
sitze bedeutender Schätze der Vergangenheit sind
sie, mit Ausnahme der in der Landeshauptstadt
befindlichen, heute außerstande, ihre Sammlungen
durch Ankäufe zu vermehren und Beamte aus-
reichend zu besolden. Frankreich besitzt in seiner
Landesbibliothek, der Bibliothèeque Nationale zu
Paris, mit ihren mehr als 3 Mill. Bänden und
100.000 Handschriften die größte Büchersamm-
lung der Welt. Auch die übrigen großen Biblio-
theken der Hauptstadt (Mazarine, Ste Genevieve,
Arsenal) stehen auf der Höhe ihrer Aufgabe, wäh-
rend Provinzial= und Universitätsbibliotheken sich
mit den entsprechenden deutschen zwar hinsichtlich
alter Bestände, nicht aber an Bücherzahl, Ver-
mehrung und rationellem Ausbau messen können.
Doch sind in Frankreich die über 41.000 Volks-
schulbibliotheken, bibliothèeques scolaires, bie
von Lehrern verwaltet, allmählich den Neben-
charakter öffentlicher Gemeindebibliotheken kleinsten
Stils angenommen haben, Gegenstand regen In-
teresses von seiten der Regierung und Bevölkerung.
Während in Frankreich die Bevorzugung der Zen-
tralbibliothek zur Beeinträchtigung der übrigen
führte, hat Deutschland vor allen andern
Ländern der Welt den Vorzug, neben seinen Zen-
tralbibliotheken (vor allem Berlin und München)
eine große Zahl trefflicher, der allgemeinen Be-
nutzung zugänglicher Universitätsbibliotheken zu
besitzen, welche sich bisher als wirksames Mittel
gegen die einseitige Konzentration der wissenschaft-
lichen Arbeit in der Landeshauptstadt bewährt
haben, eine günstige Nachwirkung der einstigen
Kleinstaaterei. In Osterreich-Ungarn ist, von
Wien abgesehen, die Lage der öffentlichen Biblio-
theken weniger günstig. Die Zahl größerer Bücher-
sammlungen ist verhältnismäßig gering, bedeutende
Bestände befinden sich, auch örtlich nicht ganz so
leicht zugänglich, in den Händen ihrer alten Be-
sitzer, der großen Klöster und Stifter; vor allem
haben die Stadtgemeinden der Kronländer sehr
wenig für Bibliothekszwecke übrig. England
hat vortrefflich ausgestattete und dotierte öffentliche
Bibliotheken, an der Spitze die weltberühmte
Büchersammlung des Britischen Museums zu Lon-
don. Von andern durch Reichtum an alten Be-
ständen ausgezeichneten Büchersammlungen sind
zu nennen die Bodleiana in Oxford, die Univer-
sitätsbibliothek von Cambridge und des Trinity
College in Dublin. An Zahl, Vielgestaltigkeit
und Liberalität der Verleihung reichen die wissen-
schaftlichen, vor allem die Universitätsbibliotheken
Englands nicht entfernt an die Deutschlands heran;
weit überflügelt aber hat England den ganzen
europäischen Kontinent durch seine fast gleichzeitig
mit Amerika begonnene und im großen durchge-
führte Schöpfung guter Stadtbibliotheken, der
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