Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

893 
Büchersammlungen zählen, sind einzuteilen nach 
ihren örtlichen Aufgaben in Landes-, Provinzial- 
und Kommunalbibliotheken; nach ihren sachlichen 
Aufgaben in allgemeine und Sonderbibliotheken. 
Die öffentlichen allgemeinen Bibliotheken sammeln 
grundsätzlich Bücher aus allen Gebieten mensch- 
lichen Wissens und Könnens, die Sonderbiblio- 
theken wenden sich mehr oder weniger ausschließ- 
lich Einzelaufgaben zu. Landes= und Provinzial- 
bibliotheken werden in der Regel allgemeine sein, 
den Sonderbibliotheken dagegen müssen die meisten 
mit Kirchen, Klöstern, Unterrichtsanstalten, Be- 
hörden und andern Körperschaften in Verbindung 
stehenden Büchersammlungen zugezählt werden, 
soweit sie nicht, wie die Mehrzahl der deutschen 
Universitätsbibliotheken, auch die Stelle von Pro- 
vinzialbibliotheken ausfüllen. Die Stadtbiblio- 
theken nehmen gewöhnlich eine vermittelnde Stel- 
lung zwischen allgemeinen und Sonderbibliotheken 
ein, sofern in ihnen zwar die meisten menschlichen 
Wissensgebiete, aber unter Weglassung wissen- 
schaftlicher Spezialliteratur vertreten sind. 
Geschichte. Die Vergangenheit der Bi- 
bliotheken kann hier nur berührt werden, soweit sie 
in gegenwärtigen Zuständen noch fortlebt. Das 
Altertum ist in dieser Hinsicht bedeutungslos, hin- 
gegen sind die Schätze der einst unter kirchlicher 
Obhut stehenden, heute meist säkularisierten Bi- 
bliotheken des Mittelalters wichtige und an Wert 
immer noch steigende Bestandteile der großen 
Büchersammlungen der Gegenwart geworden. — 
Die Entstehung der ersten öffentlichen Bi- 
bliotheken ist sowohl zeitlich wie ursächlich an die 
allmähliche Laisierung der Wissenschaft im späteren 
Mittelalter gebunden. Das früheste Beispiel einer 
öffentlichen Bibliothek ist die 1444 von Cosimo 
de' Medici in Venedig gegründete Bibliotheca 
Marciana; viel später erst folgten weitere Grün- 
dungen hervorragender öffentlicher Büchersamm- 
lungen: die Bibliotheca Bodleiana in Oxford 
1602, Mazarine in Paris 1643, die kurfürstliche 
Bibliothek in Berlin 1661, die Universitätsbiblio- 
thek zu Göttingen 1735 und die des Britischen 
Museums 1759. Im Jahr 1735 wurde auch die 
Bibliothek des Königs, heute Bibliothèeque Na- 
tionale, zu Paris der Offentlichkeit zugänglich. 
Die geschichtliche Vergangenheit bedingt einen 
zweifachen Typus unserer modernen Bibliotheken, 
dem die folgende Scheidung in solche der Alten 
und der Neuen Welt entspricht. 
3. Die Alte Welt. Italien ist als frü- 
hestes abendländisches Bildungszentrum auch jetzt 
noch Hüterin der reichsten Bildungs= und Bücher- 
schätze des Mittelalters, vor allem durch die Hand- 
schriftensammlung der 1447 gegründeten, jetzt 
halböffentlichen Vatikanischen Bibliothek. Über 
diese in der Vergangenheit liegende Bedeutung 
hinaus aber können die öffentlichen Büchersamm- 
lungen Italiens, obschon 1875 durch Einziehung 
vieler Hunderte von Klosterbibliotheken vermehrt, 
trotz der Rührigkeit ihrer Bibliothekare und dem 
Bibliotheken. 
  
894 
hohen Interesse, das Gelehrtenwelt und Regierung 
ihnen entgegenbringen, doch nicht in Wettbewerb 
mit den reicher dotierten Anstalten der nördlichen 
Kulturstaaten treten. Traurig steht es mit den 
panischen öffentlichen Bibliotheken. Im Be- 
sitze bedeutender Schätze der Vergangenheit sind 
sie, mit Ausnahme der in der Landeshauptstadt 
befindlichen, heute außerstande, ihre Sammlungen 
durch Ankäufe zu vermehren und Beamte aus- 
reichend zu besolden. Frankreich besitzt in seiner 
Landesbibliothek, der Bibliothèeque Nationale zu 
Paris, mit ihren mehr als 3 Mill. Bänden und 
100.000 Handschriften die größte Büchersamm- 
lung der Welt. Auch die übrigen großen Biblio- 
theken der Hauptstadt (Mazarine, Ste Genevieve, 
Arsenal) stehen auf der Höhe ihrer Aufgabe, wäh- 
rend Provinzial= und Universitätsbibliotheken sich 
mit den entsprechenden deutschen zwar hinsichtlich 
alter Bestände, nicht aber an Bücherzahl, Ver- 
mehrung und rationellem Ausbau messen können. 
Doch sind in Frankreich die über 41.000 Volks- 
schulbibliotheken, bibliothèeques scolaires, bie 
von Lehrern verwaltet, allmählich den Neben- 
charakter öffentlicher Gemeindebibliotheken kleinsten 
Stils angenommen haben, Gegenstand regen In- 
teresses von seiten der Regierung und Bevölkerung. 
Während in Frankreich die Bevorzugung der Zen- 
tralbibliothek zur Beeinträchtigung der übrigen 
führte, hat Deutschland vor allen andern 
Ländern der Welt den Vorzug, neben seinen Zen- 
tralbibliotheken (vor allem Berlin und München) 
eine große Zahl trefflicher, der allgemeinen Be- 
nutzung zugänglicher Universitätsbibliotheken zu 
besitzen, welche sich bisher als wirksames Mittel 
gegen die einseitige Konzentration der wissenschaft- 
lichen Arbeit in der Landeshauptstadt bewährt 
haben, eine günstige Nachwirkung der einstigen 
Kleinstaaterei. In Osterreich-Ungarn ist, von 
Wien abgesehen, die Lage der öffentlichen Biblio- 
theken weniger günstig. Die Zahl größerer Bücher- 
sammlungen ist verhältnismäßig gering, bedeutende 
Bestände befinden sich, auch örtlich nicht ganz so 
leicht zugänglich, in den Händen ihrer alten Be- 
sitzer, der großen Klöster und Stifter; vor allem 
haben die Stadtgemeinden der Kronländer sehr 
wenig für Bibliothekszwecke übrig. England 
hat vortrefflich ausgestattete und dotierte öffentliche 
Bibliotheken, an der Spitze die weltberühmte 
Büchersammlung des Britischen Museums zu Lon- 
don. Von andern durch Reichtum an alten Be- 
ständen ausgezeichneten Büchersammlungen sind 
zu nennen die Bodleiana in Oxford, die Univer- 
sitätsbibliothek von Cambridge und des Trinity 
College in Dublin. An Zahl, Vielgestaltigkeit 
und Liberalität der Verleihung reichen die wissen- 
schaftlichen, vor allem die Universitätsbibliotheken 
Englands nicht entfernt an die Deutschlands heran; 
weit überflügelt aber hat England den ganzen 
europäischen Kontinent durch seine fast gleichzeitig 
mit Amerika begonnene und im großen durchge- 
führte Schöpfung guter Stadtbibliotheken, der 
–—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.