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Nur darf man aber mit solchen Bildern nicht die
ernsthafte Meinung verbinden, als habe ein unauf-
hörlich tiefer gehender Abfall aus den Zuständen
jenes goldenen Zeitalters hinausgeführt. Viel-
mehr war es der in der Natur selbst begründete
Gang der Menschengeschichte, der sie beseitigte,
und nur eine totale Verkennung der Geschichte
wie aller realen Verhältnisse konnte die Staats-
theoretiker des 16. und 17. Jahrh. in dem
patriarchalischen Königtum die ausschließlich gül-
tige Form des monarchischen oder gar jeden
Staatswesens überhaupt erblicken lassen. Wo
waren denn bei den damaligen vielgestaltigen
Verhältnissen des gesellschaftlichen Lebens, bei dem
wachsenden Umfang der Staaten, bei dem Stand
der allgemeinen Gesittung die beiden Voraus-
setzungen, an welche geschichtlich der Bestand des
patriarchalischen Königtums sich geknüpft erweist:
das Hervorwachsen aus dem Familienverband
oder die überragenden Vorzüge des Herrschers?
Wenn die politische Entwicklung dahin ging, den
geschlossenen Einheitsstaat an die Stelle des mittel-
alterlichen Lehnsstaates zu setzen und die Macht
der Zentralgewalt von allen hemmenden Schranken
zu befreien, so mag man darin heute vielleicht eine
geschichtliche Notwendigkeit erblicken; aber es war
eine Täuschung, wenn die Verfechter des absoluten
Königtums das durch eine Reihe geschichtlicher
Ursachen zeitweilig Herbeigeführte als das allein
Berechtigte glaubten hinstellen zu müssen; es war
ein seltsamer Irrtum, wenn sie im Zusammenhang
damit die Normen des politischen Lebens einer
ganz andersartigen und zudem völlig singulären
Erscheinung, dem alttestamentlichen Königtum,
entnehmen wollten; es war ein verhängnisvoller
Mißgriff, wenn sie die Stellen des Neuen Testa-
ments, welche zuletzt doch nur die Pflicht der Auf-
rechterhaltung der staatlichen Ordnung überhaupt
einschärfen, im Sinn rückhaltloser Unterwerfung
unter einen absoluten Herrscher deuteten.
Der erwachten politischen Reflexion aber, welche
an die Fortdauer des patriarchalischen Königtums
nicht glaubt, weil der Unterschied der Zeiten allzu
sehr in die Augen springt, genügt es auch nicht,
die Betätigung der Staatsgewalt lediglich durch
moralische Erwägungen eingeschränkt zu wissen.
Kinder, sagt Aristoteles, haben dem Vater gegen-
über kein Recht, wohl aber hat dieser ihnen gegen-
über Pflichten. Das ist der Satz, welchen Bossuet
auf das Verhältnis der Untertanen zum Fürsten
anwendet. Aber die mündig gewordenen Völker
bestehen auf ihrem Recht. Nicht von dem guten
Willen, nicht von der Gnade wollen sie abhängen,
sondern die Macht des Herrschers soll an ihrem
Recht eine Schranke finden. Diese Macht ist be-
gründet in dem Staatszweck, der Verwirklichung
der Rechtsordnung, darum kann sie nicht weiter
reichen, als diese Ordnung erheischt, und am
wenigsten darf sie störend in dieselbe eingreifen.
Die Anerkennung sittlicher, die Will-
kür der Staatsgewalt bindender
Absolutismus.
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Mächte ist der erste Schritt über den
Absolutismus hinaus und das, was
ihn von der Despotie trennt; der zweite,
nicht minder bedeutsame, ist die An-
erkennung eines von jener Willkür
unabhängigen Rechts.
Naturgemäß ist es das privatrechtliche Gebiet,
auf welchem die letztere sich zuerst Bahn bricht.
Die persönliche Freiheit, die Unverletzlichkeit des
auses das Privateigentum in seiner jeweiligen
estalt treten als ebenso viele feste Punkte heraus,
welche der Einflußnahme der Staatsgewalt ent-
zogen bleiben müssen. Um sie ist immer zuerst und
am ausdauerndsten gekämpft worden, Eingriffe
fürstlichen Ubermuts in diese Sphäre rufen jeder-
zeit den energischen Widerstand eines kräftigen
und der Freiheit würdigen Volkes hervor. Das
wußte schon Aristoteles, der unter den Mitteln zur
Aufrechterhaltung einer Tyrannis auch das auf-
zählt, daß der Herrscher sich sorgfältig vor der-
artigen Eingriffen hüte. Das Entscheidende aber
und der Anfang des Rechtsstaates liegt darin, daß
die Einhaltung dieser Grenzen seiner Macht auf
seiten des Staatsoberhaupts nicht als freiwillige
Beschränkung, und die rechtliche Freiheit der Unter-
tanen innerhalb der gleichen Grenzen nicht als
Gnadengeschenk gelten, sondern beides als bestimmt
und gefordert durch die höhere, jeder Willkür ent-
rückte Ordnung des Rechts.
Mit den eigenen Rechten des Individuums, die
die Staatsgewalt nicht verleiht, sondern vorfindet
und zu schützen berufen ist, hängt begrifflich das
Recht der freien Vereinigung zu erlaubten Zwecken
eng zusammen. Aber die Anerkennung der ersteren
pflegt darum noch lange nicht die Freigabe dieses
letzteren zur Folge zu haben. Freie Genossen-
schaften, welche ihre Angelegenheiten selbständig
verwalten, über Eintritt und Austritt, Leistungen
und Vorteile der Mitglieder aus eigener Macht-
vollkommenheit entscheiden, passen nicht in eine
absolute Monarchie, wo alle Sterne gleichmäßig
um die eine Sonne kreisen sollen, sie sind ein Dorn
im Auge der auf die Hoheitsrechte des Staates,
den sie vor allem vertreten will, eifersüchtigen
Bureaukratie. Der Absolutismus, der vor dem
reinen Privatrecht notgedrungen haltmacht, kämpft
um so nachdrücklicher gegen die Anerkennung
eines von dem Ermessen der Staatsgewalt unab-
hängigen Rechts der Genossenschaften. Es bedeutet
einen neuen Sieg des Rechtsstaats, wenn auch
diese Anerkennung errungen ist. Daß dabei wegen
der Macht, die weit verzweigte, eng geschlossene
Assoziationen auszuüben imstande sind, eine ge-
wisse Einflußnahme der die Interessen des Gan-
zen wahrenden staatlichen Autorität vorbehalten
bleibt, bedarf hier nur einer kurzen Erinnerung.
Immer ist das Entscheidende, daß der Willkür,
auch wenn sie sich in das Gewand des höheren
Staatsinteresses kleidet, vorgebeugt und den An-
sprüchen der rechtlichen Freiheit die äußere Gel-
tung zuteil werde.