929
daß er nach der Versicherung Montaignes grund-
sätzlich nur einmal im Jahr zur Feder griff, um
sich selbst — an eine Veröffentlichung hat er nie
gedacht — von seinem Denken Rechenschaft zu
geben. Das Jahr 1548 und das, was er als un-
mittelbarer Zeuge in Bordeaux sah, brachten ihn
zu seinem Discours.
Während er, ganz in die Antike vertieft, in Ari-
stoteles, Kenophon und Plutarch seine Staats-
ideale suchte, trat ihm das grausige Zeitelend in
unerhörten Schrecknissen entgegen, welche der Con-
nétable Anne de Montmorench über seine Vater-
stadt brachte. Der grausame Fiskalismus Franz' I.
hatte mit der Thronbesteigung Heinrichs II. (1547)
gelegentlich der Eintreibung der Salzsteuer (ga-
belle) zur Auflehnung Bordeaux', der Guyenne
und Saintonge geführt; in ersterer Stadt war der
Stellvertreter des Königs erschlagen worden. Der
wilde Montmorency rückte, alles auf seinem Weg
verwüstend, vor Bordeaux, lehnte höhnend die
angebotene Unterwerfung ab, ließ die offene Stadt
stürmen, nahm 140 der Notabeln gefangen, „Hieß
sie vor seinen Augen mit ihren Nägeln dem Er-
schlagenen das Grab aufscharren“ und sie dann
unter allen Greueln der feudalen Kriminaljustiz
in ihrer renaissancistischen Barbarei martern.
La Bottie sah, wie sie gerädert, gepfählt, gevier-
teilt usw. wurden. Unter solchen Eindrücken ent-
stand der Discours, der erst ein volles Menschen-
alter später mit naiver Bewunderung seines Freun-
des der Offentlichkeit übergeben wurde. Er ist der
Schrei des Entsetzens eines einzelnen im Namen
der vielen, der Unterdrückten; er richtet sich gegen
die freiwillige Unterwürfigkeit von Menschen, die,
von der Natur gleich geschaffen, Sklaven eines
andern Menschen sein wollen, der vielleicht der
schlechteste unter ihnen ist. „Wie“, rief er aus,
„ist es denn möglich, daß so viele Menschen, so
viele Flecken und Städte, so viele Völkerschaften
einen einzigen als Tyrannen sich gefallen lassen,
der doch keine Gewalt hat, als die man ihm be-
läßt, keine Macht zu schaden, wenn die vielen sie
nicht dulden wollen. Welches Unglück, oder viel-
mehr, welch unsägliches Elend ist es, jene unab-
sehbare Schar von Leuten zu sehen, die nicht ge-
horchen, wohl aber Sklaven sein, nicht regiert,
sondern tyrannifiert sein wollen, die weder Hab
und Gut noch Kinder noch selbst das Leben mehr
ihr eigen nennen, die alle Plünderungen, alle
Qualen, Nichtswürdigkeiten und Grausamkeiten
erdulden wollen, erdulden nicht etwa durch eine
Armee oder die erste beste Barbarenhorde, gegen
die man Blut und Leben einsetzen müßte, sondern
durch einen einzigen, nicht etwa einen Herkules
oder Samson, sondern vielleicht den feigsten und
weibischsten der ganzen Nation.“ Gewiß ist das
bis in die einzelnen Satzgefüge antike griechische
Rhetorik; allein die Verantwortung des Indivi-
duums, das Recht und die Pflicht jedes einzelnen
gegenüber dem Unterdrücker und dem Mißbrauch
der Gewalt zu ihrer eigenen Vernichtung tritt
Staatslexikon. J. 3. Anfl.
Botktie.
930
im ganzen Discours scharf hervor. „Derjenige,
welcher euch furchtbar mißhandelt“, sagt La Bottie,
„hat nur zwei Augen, nur zwei Hände, nur einen
Leib... Woher hat er denn alle die Augen, die
euch auskundschaften, wenn ihr ihm die eurigen
nicht leiht: Wo fände er alle die Hände, die euch
mißhandeln, wenn nicht bei euch? Sind denn die
Füße, die eure Städte zertreten, nicht die eurigen?
Hätte er ohne euch die geringste Macht über euch?
Wie könnte er es wagen, euch in Schrecken zu
halten, wenn ihr nicht einverstanden wäret? Was
könnte er euch anhaben, wäret ihr selbst nicht die
Hehler des Räubers, der euch ausplündert, Mit-
schuldige des Mörders, der euch tötet, Verräter
an euch selbst? Ihr sät eure Früchte nur, damit
er sie zertritt; ihr ziert und füllt eure Häuser nur,
damit er seine Diebeslust befriedigt; ihr erzieht
eure Töchter, damit er eine Beute schmutziger
Sinnenlust vorfinde; ihr ernährt eure Kinder, da-
mit er sie fortschleppe, oder besser, aus ihnen die
Opfer seiner Schlächtereien mache . Und von
so vielen Schamlosigkeiten, die selbst Tiere nicht
empfinden oder nicht dulden würden, könnt ihr
euch frei machen, wenn ihr den Versuch macht,
nicht etwa euch davon zu befreien, sondern bloß
den Willen zeigt, das zu tun. Seid entschlossen,
ferner keine Sklaven zu sein, und ihr seid frei.
Ich will nicht, daß ihr ihn (den einzigen) reizt
oder erschüttert; ich will nur, daß ihr ihn nicht
mehr unterstützt, und ihr werdet sehen, wie er
gleich einem großen Koloß, dessen Füße man
untergräbt, in sich selbst zusammenstürzt und in
Stücke bricht.“ Ist es nicht, als hörte man das
Echo der kommenden mehrhundertjährigen De-
magogie? In der wilden Gärung und Auf-
regung, in welche die Renaissance und die Reli-
gionskriege die damalige Welt stürzten, ahnte
kaum jemand das letzte Ziel der damals anheben-
den Kämpfe. Daß es sich um die Befreiung des
Individuums, um Sicherstellung seiner Rechte und
Pflichten gegen tyrannische Vergewaltigung han-
delte, trat hier zuerst zutage, aber man verstand
es nicht; damals meinte man, der Streit bestehe
nur zwischen Monarchie und Antimonarchie. Mon-
taigne erschrak, als er den hugenottischen Miß-
brauch der Schrift seines jungen Freundes sah;
er stand von seinem Vorhaben, ihr durch die Auf-
nahme in die Essays, sein bewundertes Meister-
werk, noch weitere Verbreitung zu geben, ab, weil,
sagte er (Essais 1 27), der Discours jetzt von
denen veröffentlicht werde, „die den Zustand un-
seres Gemeinwesens verwirren und ändern wollen,
ohne sich um dessen Besserung zu kümmern, und
weil sie die Schrift mit dem Mehl anderer
Schriften vermengt haben". Er verwahrt seinen
Freund energisch gegen den Vorwurf, je ein Feind
der Monarchie gewesen zu sein; nie sei ein Bürger
den Gesetzen untertäniger gewesen; nie habe es
einen größeren Bekämpfer der Empörungen und
Neuerungen (remuements et nouvelletés) ge-
geben, welche die Staaten verwirren. Immerhin
30