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gesteht Montaigne selbst, sein Freund „wäre lieber
zu Venedig gewesen als zu Sarlat, und das mit
Recht“, d. h. er habe die oligarchische Despotie
der Dogenrepublik der französischen Monarchie
vorgezogen. Auch die Berufung auf einzelne
Stellen des Discours, z. B. auf La Boeties
Begeisterung für Lykurg und den Spartanerstaat,
spricht nicht für La Bocties monarchische Anschau-
ungen. „Jener“ (Lykurg), sagte er, „nährte und
erfüllte mit seinen Gesetzen und seiner Staatskunst
die Lakedämonier so sehr, daß jeder aus ihnen
lieber tausendmal gestorben wäre, als einen andern
Herrn denn das Gesetz und den König anzu-
erkennen.“ Aus solchen Worten La Boêties Vor-
liebe für die Monarchie, geschweige denn für die
durch Gesetz gemäßigte Monarchie, herleiten zu.
wollen, ist ebenso unhistorisch wie ihn zum Vor-
kämpfer des politischen Radikalismus zu machen.
Man wird sich endlich bescheiden müssen, will man
anders einer so tiefeingreifenden literarischen Er-
scheinung, wie es der Discours bis in unsere Tage
geblieben ist, gerecht werden, die ausgetretenen Ge-
leise veralteter Staatsauffassungen preiszugeben.
Es handelt sich im vorliegenden Fall nicht um
Monarchie und Republik; es handelt sich um grund-
verschiedene Anschauungen über Individuum und
Staat, um die christliche oder antichristliche Ge-
sellschaftsauffassung, genauer, um die Reaktion der
individuellen und Volkerechte, welche das christliche
Königtum Ludwigs VI. und Ludwigs IX. zu selten
hoher Blüte dem Volk vermittelt hatte, gegen die
Wiederkehr des antiken Cäsarismus in der Politik
Ludwigs XI., Franz' I. und Heinrichs IV. Nicht
mit einem Wort ist im Discours der Bedeutung
des christlichen Königstums als der Großmacht
zum Schutz der Schwachen gedacht; so sehr war
das Andenken an dasselbe unter der Herrschaft der
heidnischen Renaissance und ihrer Anschauungen
von Recht und Gewalt, des schamlosen Interessen-
kults machiavellistischer Korruption am Hof der
letzten Valois und der allgemeinen religiös-sittlichen
Verwilderung verloren gegangen. Aber darum
war der Wiederstand gegen den Absolutismus
nicht gebrochen; er pflanzte sich, genau in den Ge-
leisen des Discours, d. i. dem ins Schrankenlose
gehenden Individualismus, bis über den bour-
bonischen Absolutismus, bis über den napoleoni-
schen Cäsarismus und dessen Sturz im radikalen
Sozialismus fort, der ja nichts ist seinem Wesen
nach als vollendeter Individualismus. In dieser
Hinsicht ist La Boétie mit der Betonung des freien
Willens, mit dem Hinweis auf den freien Ver-
trag, die freie Vereinigung zur Beseitigung des
Unterdrückers einer der frühesten Vorläufer des
modernen Anarchismus geworden (vgl. H. Pesch,
Lehrbuch der Nationalökonomie 1 (1905] 344 f0.
Das große Problem der modernen Politik, die
Sicherherstellung der sozialen Freiheiten des In-
dividuums, der Freiheit des Gewissens, der Person
und des Eigentums durch die freie Kirche und ihre
die Pflicht des Individuums regelnde Gewissens-
Bolivia.
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macht unter der Schutzmacht deschristlichen Staats,
tritt uns gleich bei seinem Entstehen in dem Über-
gang der mittleren zur neuen Zeit entgegen, bei
La Bobtie freilich schon in gefälschter, weil von
antikem Republikanismus beherrschter Form.
Allein auch in dieser Form bleibt der Discours
nicht nur ein schneidender Protest gegen den rohen
Egoismus und die schnöde Gewissenlosigkeit der
Interessenpolitik eines Machiavelli, sondern auch
ein denkwürdiges Zeugnis für die damals noch
mögliche Umkehr von den verhängnisvollen Wegen
des Absolutismus. Jedenfalls wäre es unrecht,
La Bobtie nur im entferntesten jener unchristlichen
Gesinnungsweise zu bezichtigen, die seine späteren
Bewunderer ihm andichteten. Dafür bürgt der
Bericht über sein christliches Leben und Sterben
und das Zeugnis des jener Zeit nahestehenden
Geschichtschreibers Aug. de Thou (1553/1617):;
„La Boétie besaß“, sagt er, „einen bewunderns-
werten Geist, eine umfassende und tiefe Gelehr-
samkeit und eine ganz außergewöhnliche Leichtig-
keit im Sprechen und Schreiben. Er beschäftigte
sich zumeist mit Moral und Politik. Begabt mit
seltener, weit über sein Alter hinausgehender Klug-
heit, wäre er zur Führung der größten Geschäfte
befähigt gewesen, wenn er nicht fern vom Hof ge-
lebt und ein zu früher Tod ihn nicht gehindert
hätte, die Früchte eines so erhabenen Genies zu
sammeln“ (Hist. univers. 1. 25). Danach ist der
Ausspruch Montaignes, sein Freund sei der größte
Mann des Jahrhunderts gewesen, zu bemessen.
Auf die nach seinem Tod zahlreicher als je zuvor
auftretenden politischen Schriftsteller, namentlich
Bodin, ist La Boctie von weittragendem Einfluß.
Hinsichtlich der Literatur weisen wir noch
auf die „Zusätze“ hin, die zuerst 1578 in den Mé-
moires de I’Etat de France sous Charles IX
(Middlebourg) III 85, dann neugedruckt mit Noten
von P. Coste in der Separatausgabe von 1580 er-
schienen: Suppléments aux Essais de Michel de
Montaigne. Dieselben sind gleichfalls den späteren
Ausgaben der Essays einverleibt. Ein Pariser
Druck von 1589 in Neufranzösisch, vermehrt um
die Rede des Marius bei Sallust (lugurtha c. 85),
war gegen das bourbonische wie der Lamennais“
(1842) gegen das Julikönigtum gerichtet. Die
brauchbarste u. beste Schrift über La Bottie schrieb,
freilich ganz in dem Rahmen der oben charakteri-
sierten Auffassung der radikalen Bourgeoisie, der
Akademiker Léon-Jacques Feugere (Par. 1845),
wozu die (Cuvres complétes de la Boétie mit
Einleitung u. Noten (1846) kamen. [Weinand.]
Bolivia. 1. Geschichte. Bolivia, reprä-
sentativ-demokratische Republik Südamerikas, um-
faßt das Gebiet der ehemaligen spanischen Audi-
encia Charcas und bildete ursprünglich einen Teil
des Inkareichs von Cuzco. 1588 erschienen die
Spanier auf den Hochebenen des heutigen Bo-
livia, unterwarfen die Eingebornen trotz kräftigen
Widerstands und gründeten 1540 La Plata (Char-
cas), 1548 La Paz. Das Land gehörte als Hoch-
Peru zum Vizekönigreich Peru, bis es 1776 zum