Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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kanisches Staatskirchentum zerrüttete, durch die 
atheistische Aufklärung revolutionierte Monarchie 
erhofften. Die Annahme der Zivilkonstitution des 
Klerus indes (12. Juli 1790), ihre Verurteilung 
durch die Bischöfe, die Bestätigung des Königs 
(26. Dez.), der Zwang des Konstitutionseides 
(4. Jan. 1791) ertöteten diese Hoffnungen für 
immer. In einem Brief an seine Kollegen nahm 
er vom Staatsdienst Abschied. Als Emigrant 
machte Bonald den sog. Fürstenfeldzug in der 
Condéschen Armee mit und zog sich nach deren 
Auflösung nach Heidelberg, dann, um in seiner 
sich drückender gestaltenden Armut unabhängig 
bleiben zu können, nach Egelshofen bei Konstanz 
zurück, ganz beschäftigt mit der Erziehung seiner 
beiden ältesten Söhne und unter den nicht enden- 
den Hiobsposten von den entfesselten Schrecken 
der Revolution mehr und mehr in die Forschung 
nach dem die Revolution allein überwindenden 
Prinzip sich vertiefend. 
In Egelshofen entstand Bonalds Erstlings- 
schrift, deren Drucklegung 1796 zu Konstanz mit 
den spärlichsten Mitteln und den Arbeitskräften 
eines kleinen Emigrantenkreises, meist Priester, 
ermöglicht wurde, unter dem Titel: Theéorie du 
pouvoir politique et religieux dans la société 
civile, démontrée par le raisonnement et par 
Thistoire. Par M. de Bonald (3 Bde). Die 
Schrift, nach Form und Anlage eine Gelegenheits- 
schrift, brachte die Grundanschauung der Bonald= 
schen Staatstheorie von der religiösen Grund- 
lage aller Sozialgewalt, vorab der politischen, zu 
so siegreichem Ausdruck, daß man von ihrem Er- 
scheinen die Wendung in der christlichen Publizistik 
Frankreichs datieren muß. — Wie sehr die kühne 
Herausforderung erbitterte, zeigte die sofortige 
Beschlagnahme der insgeheim fast ganz nach Paris 
geschafften Auflage auf Befehl des Direktoriums, 
ein Befehl, welcher so strenge durchgeführt wurde, 
daß eine 1819 veranstaltete Ausgabe der Werke 
Bonalds ohne die Théorie erscheinen mußte. 
Immerhin sorgte ein enger Freundeskreis, u. a. 
Fontanes, Chateaubriand, La Harpe, für die Ver- 
breitung der Thorie, und tiefer blickende Repu- 
blikaner, wie der Literaturkritiker M. J. de Chenier, 
fanden der mit verblüffender Kühnheit der Revo- 
lution ins Angesicht geschleuderten Herausforde- 
rung gegenüber keine andere Waffe der Abwehr 
als den Vorwurf der Lächerlichkeit einer mit „mathe= 
matischen Formeln“ in „anmaßender Schroffheit“ 
sich spreizenden Diktion, einer in unerhörter, wahr- 
haft komischer Selbsttäuschung sich gefallenden Ein- 
bildung, gegen Montesquien, Voltaire, J. J. Rous- 
seau etwas ausgerichtet zu haben. Daß es sich um 
einen sehr ernsten, freilich von Dunkelheiten und 
Dogmatismen nicht freien, aber genial entworfenen 
Angriff auf das revolutionäre Prinzip des natura- 
listischen Staats= und Gesellschaftsvertrags han- 
delte, dem der Lauf der Ereignisse, die spätere 
publizistische und politische Tätigkeit Bonalds und 
seiner Schule eine ungeahnte Bedeutung geben 
Bonald. 
  
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sollten, war weder Chenier noch den Freunden 
Bonalds noch ihm selbst damals klar. Es war 
eben eine neue und darum noch wenig verstandene 
Ideenrichtung, auf welche die christlich-soziale 
Apologetik von Bonald gestellt war. Weder Saint- 
Simon noch Rollin noch d'Aguesseau, La Brousse, 
Guenée waren in ihrer konventionellen Verteidi- 
gung der Interessen der Religion und Moral über 
den engen Bereich der gallikanischen Theologie und 
staatskirchlichen Praxis hinausgekommen (Wetzer u. 
Weltes Kirchenlexikon IV 1874 ff). Daß gegen 
eine Staatslehre, wie die von Montesquien (Esprit 
des lois (1748)), Voltaire (Essai sur les moeurs 
des nations (1756)), J. J. Rousseau (Contrat 
social /1762.) — einzig diese drei Schriften hatte 
Bonald bei Abfassung seiner Schrift vor sich —, 
die Gesellschaft nur durch das christliche Autoritäts- 
prinzip vor dem alles niederwerfenden Radikalis- 
mus der Revolution, vor grimmer Selbstzerstörung 
bewahrt werden könne, das war die Frucht der im 
schmerzlichsten, mühevollsten Ringen mit sich selbst 
entstandenen Forschungen Bonalds. 
Bonald war ein systematisch angelegter Geist, 
der Mann einer Idee, einer Theorie, die er mit 
nie ruhender Reflexion auf alle Gebiete der theo- 
retischen wie praktischen Politik anwandte. Das 
war seine Größe, das blieb seine Schwäche in dem 
langen Lauf seines mit der heimlichen Rückkehr 
nach Frankreich (im Frühjahr 1797) anhebenden 
neuen Arbeitens. Von Lausanne aus war er über 
Lyon und Nimes nach Montpellier gekommen, wo 
er seine Gattin und die jüngeren Kinder nach sieben 
schweren Leidensjahren wiedergefunden hatte. Die 
neuen jakobinischen Exzesse des 18. Fruktidor 
(4. Sept.) 1797 zwangen ihn nochmals zur Flucht, 
bis er endlich zu Paris im Hause einer edlen Dame, 
des Fräuleins Alex. Desnoyelles, einen sichern 
Zufluchtsort und die Hilfsmittel zur systematischen 
Ausbildung seiner Gesellschaftslehre in drei Schrift- 
werken fand, mit denen er bald nach dem 18. Bru- 
maire (9. Nov.) 1799, nach der Sprengung des 
Direktoriums, hervortreten konnte. Zuerst erschien 
(1800) unter dem Pseudonym „Bürger Severin“ 
der Essai analytique sur les lois naturelles 
de Tordre social, ou du pouvoir, du ministere 
et du sujet dans la société (zweite, vom Verf. 
durchgesehene Ausgabe, Par. 1817). In gänz- 
licher Umarbeitung erschien der Essai alsbald in 
Législation primitive considérée dans les 
derniers temps par les seules lumieres de la 
raison (Par. 1802, 3 Bde), dem ersten Haupt- 
werke Bonalds, welches die Anwendung seiner 
Theorie von der politischen und religiösen Gewalt 
auf die Sozialordnung behandelt. 
Tiefer das Problem der politischen Gewalt 
nachchristlicher Auffassung gegenüber dem revolu- 
tionären Gesellschaftsvertrag erfassend, sucht Bo- 
nald den dreifachen Satz zu erweisen: 1. Die 
gesellschaftliche Ordnung ist der Inbegriff der 
wahren oder natürlichen Beziehungen, die zwischen 
den Personen der Gesellschaft bestehen. 2. Die
	        
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