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des Code civil lebhaft erörterte Frage der Ehe-
scheidung anwendend. Die Schrift führt den
Titel: Du Divorce considéré au 19e siecle
relativement à I’état domestique et à l'état
public de la société. Trotz des großen Auf-
sehens, welches die Schrift in politischen Kreisen
erregte, blieb dieselbe zunächst ohne ersichtlichen
Erfolg für die Gesetzgebung.
Der Erste Konsul hatte den ihm bekannten Ver-
fasser der Théorie aus der Liste der Emigrierten
gestrichen; es war einer der glücklichsten Tage im
Leben Bonalds, als er nach Monna, dem ver-
kleinerten, von seiner Gattin mit dem Reste des
Vermögens aus der Nationalversteigerung geret-
teten Erbe seiner Väter, zurückkehren konnte. Wie
mit neuem Leben wirkte er von hier aus in Ver-
bindung mit Chateaubriand, Hoffmann, Fontanes
u. u. im Mercure de France und im Journal
des Débats mächtig an der Weckung des religiösen
und monarchischen Bewußtseins; er wurde als der
Mann der tiefgehenden Spekulation der gefeierte
Mittelpunkt dieses Kreises, und die Fülle, Schön-
heit, Kraft und Neuheit der Ideen, mit welchen
er die spiritualistischen Doktrinen gegen die Mate-
rialisten und Voltairianer der déecade philoso-
phique unter Cabanis, Volney, Destutt de Trach,
Chenier u. a. verfocht, fand solche Anerkennung,
daß bereits der Kritiker Dussault (1814) Bonald
als den Schriftsteller bezeichnen konnte, „welcher
seit zehn Jahren die meisten neuen Ideen aus-
gestreut habe“. Napoleon I., welcher Bonald
als den schärfsten und geistvollsten Gegner der
republikanischen Sophisten schätzte, ernannte ihn
(Sept. 1808) ohne sein Vorwissen auf Fon-
tanes' Vorschlag zum Titularrat der neu gegrün-
deten Pariser Universität, ein Amt, welches jedoch
Bonald trotz des für seine beschränkten Verhält-
nisse verlockenden Einkommens von 10 000 Francs
Jahrgehalt erst zwei Jahre später und dann auf
Abbé Emarys Zuspruch und wegen seiner freund-
schaftlichen Beziehungen zu dem Großmeister der
Universität annahm. Am 7. Juli 1810 erschien zu
Monna ein Geheimbote des Königs von Hol-
land Louis Bonaparte mit einem überaus ehren-
vollen Schreiben, worin letzterer Bonald die Er-
ziehung seines ältesten Sohnes antrug, ihn der
vollen Ubereinstimmung mit seinen Grundsätzen
versichernd. Bonald schlug das glänzende An-
erbieten aus, desgleichen die bald nachher bei
einem Pariser Aufenthalt ihm durch Kardinal
Maury angetragene Erziehung des Königs von
Rom, letztere mit der Bemerkung: überall anders-
wo passe seine Regierungskunst, nur nicht für die
Hersschaft über Rom.
Die Rückkehr Ludwigs XVIII. (1814), der
Bonald zum Unterrichtsrat ernannte, mußte ihn,
der dieses Ereignis 20 Jahre vorher als den
Ausgangspunkt einer allgemeinen Restauration
angekündigt hatte, zu einem Rückblick auf die Lage
Frankreichs und Europas um so mehr auffordern,
als ihm die Aufmerksamkeit der leitenden politischen
Bonald.
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Persönlichkeiten gesichert schien. Schon im Januar
1815 trat er mit einer Anwendung seiner politi-
schen Theorie auf die Frankreich am Ausgang
der Revolutionsepoche und des ersten Kaiserreichs
bereitete tatsächliche Lage hervor. Wir meinen die
ebenso bedeutsame als in ihrem ausgearbeiteten
Detail und in ihrem Einfluß auf die Hofkreise zu
wenig beachtete Schrift: Rêflexions sur I’état
Sénéral de I’Europe, suivies de quelques con-
sidérations sur la noblesse (Par. 1815). Bo-
nald denkt darin mit Heinrich IV., mit Bossuet
und Leibniz einen idealpolitischen Ideenkreis durch,
dessen reale Unterlagen mit der christlichen Staaten-
republik Europas, dem pontifikalen Supremat
Roms, der europäischen Adelsordnung in der
ersten Revolution untergegangen waren; man
versteht schwer, wie er, der Prophet der „zweiten
Revolution“, sich über die Wirklichkeit der Lage
täuschen konnte, welche die sog. Restauration in
Frankreich selbst vorfand.
In Frankreich wie im ganzen südwestlichen
Europa war die Revolution, besiegt durch die
Tatsachen, unbesiegt in den Ideen, aufrecht ge-
blieben. Sowohl die alten Revolutionäre mit
ihrem voltairianischen Haß gegen Religion und
Autorität, mit ihrer rastlosen, staunenswerten
Propaganda der Zerstörung in den Parlamenten,
in der Publizistik, in der Verwaltung, besonders
in den Geheimgesellschaften, als auch die neuen
Revolutionäre, die „Liberalen“, mit ihrer angeb-
lichen Versöhnungspolitik einer Ausgleichung
zwischen dem neuen „christlichen“ Staat und der
Revolution, waren einig in dem Sturm auf die
„reaktionär'“ Restauration. Daß nur die
entschlossene und andauernde Rückwendung zu
Christentum und Kirche in den Institutionen des
öffentlichen und privaten Lebens den zweiten und
entscheidenden Sieg über die Revolution vor-
bereiten und vollenden könne, das wurde inmitten
der wiederbelebten Traditionen der absolutistischen
Monarchie und der gallikanischen Kirchenpolitik
verkannt: man duldete die Religion und umgab
sie mit dem althergebrachten Ehrenschmuck, aber
nur, um sich ihrer für die politischen Interessen
der Restauration zu bedienen, nicht weil die
Religion die Wahrheit auch für das politische
und soziale Denken und Arbeiten ist. Lud-
wig XVIII. war in dem Skeptizismus des
18. Jahrh. aufgewachsen; ohne ernste religiöse
Überzeugungen, ohne ausgeprägten politischen
Charakter, sah er die Religion stets nur als eine
Sache der Politik, als ein Regierungsmittel an,
und Bonald erkannte bald, daß eine Regie-
rung, die „kapitulierte“, statt zu „regieren“, nie
seine autoritären Regierungsanschauungen billigen
würde; das hinderte ihn indes nicht, als der Ruf
an ihn erging, seine ganze Kraft für die Restau-
ration der christlichen Monarchie einzusetzen. Auch
als Parlamentarier blieb er derselbe.
Mit seiner Wahl zum Deputierten des
Aveyron (Aug. 1815) legte er seine Stelle im