Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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konnte es nicht schwer fallen, auf das Gefährliche 
einer solchen Doktrin hinzuweisen und auf die 
unvermeidliche Verwirrung und Auflösung des 
Staatswesens, wozu das Zugeständnis einer der- 
artigen Befugnis an die Untertanen notwendig 
führen müsse. Auch ist einleuchtend, daß das 
wirkliche Ergreifen dieses äußersten Mittels zwar 
hinreicht, eine gewalttätige Regierung zu besei- 
tigen, aber gar keine Anleitung gibt, wie die neue, 
an ihre Stelle tretende dauernd in den Bahnen 
des Rechtsstaates erhalten werden könne. 
Den mächtigsten Anstoß gab dagegen die Lehre 
Montesquieus von der Trennung der Ge- 
walten. In der Verteilung der gesetzgebenden, 
richterlichen und ausübenden Gewalt an vonein- 
ander unterschiedene Organe glaubte er das Ge- 
heimnis der englischen Verfassung entdeckt zu haben 
und zugleich das erlösende Wort, welches in allen 
andern Ländern die Schäden und Mängel des 
kranken Staatswesens zu beseitigen die Kraft 
habe. — In einem Punkte traf Montesquien, so 
unlogisch auch seine Einteilung ist und so unver- 
träglich mit der Einheit eines Staatswesens die 
Aufrichtung dreier voneinander unabhängigen 
Gewalten sich erweisen müßte — in einem Punkte 
traf er ohne Zweifel das Richtige, nur daß er ge- 
rade hier nichts Neues sagte. Zu den Vorzügen 
der „guten alten Zeit“ pflegen ihre Lobredner 
wohl auch das zu zählen, daß der König damals 
sein Amt als oberster Richter wirklich ausgeübt 
habe, daß er selbst zu Gericht saß oder durch seine 
Abgesandten Recht sprechen ließ. Die Erfahrung 
aber hat gelehrt, daß der königlichen Würde nichts 
entzogen wird, die Gerechtigkeit dagegen sicherer 
gewahrt bleibt, wenn die Rechtsprechung der un- 
mittelbaren Einwirkung der obersten Gewalt ent- 
rückt ist. Daß niemand Richter in eigener Sache 
sein, daß der Angeklagte nicht ungehört verdammt 
werden dürfe, daß eines Mannes Rede nur halbe 
Rede sei und man beide Teile hören müsse, das 
sind so elementare Forderungen der Gerechtigkeit, 
daß sie sich in jedem, auch dem primitivsten Ge- 
meinwesen geltend machen. Aus ihnen aber ent- 
wickeln sich die beiden mächtigen Stützen der Rechts- 
sicherheit, das ordentliche Gerichtsverfahren und 
die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Rich- 
teramtes. Sie bilden die erste, wichtigste, dauernde 
Schutzwehr gegen den Absolutismus in allen seinen 
Gestalten. „Ein freier Mann“, sagt Englands 
magna charta vom Jahr 1215, „soll nicht in 
Haft oder Gefängnis versetzt, noch aus seinem 
Besitz oder Recht gesetzt, noch auf irgend eine Weise 
bekümmert werden, noch wollen wir ihn verfolgen 
oder verfolgen lassen anders als durch gesetzliches 
Urteil seiner Standesgenossen oder nach den Ge- 
setzen des Landes.“ An dieser Stelle sucht darum 
auch der Absolutismus der Neuzeit immer wieder 
seine Hebel anzusetzen. Nichts hat vielleicht so sehr 
die Opposition gegen Karls I. selbstherrliches Vor- 
gehen wachgerufen und geschärft als seine Versuche, 
die Entscheidung der ordentlichen Gerichte zu be- 
  
Absolutismus. 
  
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einflussen, und die Einsetzung eines seinem Einfluß 
unmittelbar unterstehenden Ausnahmegerichtshofs, 
der sog. Sternkammer. Nichts zeigt deutlicher, bis 
zu welchem Grad die Verleugnung des Rechts im 
absolutistischen Frankreich gediehen war, als die 
Andauer jenes Mißbrauchs, an welchem, unmittel- 
bar vor der Revolution, Mirabeaus Beredsamkeit 
aufloderte: der lettres de cachet, jener könig- 
lichen Haftbefehle, welche der einzelne sich er- 
wirken konnte, um irgend wen ohne Untersuchung 
und Urteil für längere oder kürzere Zeit seiner 
Freiheit zu berauben. In Deutschland hatte die 
eigenartige politische Entwicklung dahin geführt, 
daß auch ohne vorangegangene Revolution im 
18. Jahrh. der Satz in allgemeiner Geltung 
stand, landesherrliche Eingriffe in die Recht- 
sprechung und sog. Kabinettsjustiz seien unstatt- 
haft, vielmehr habe der Landesherr die Recht- 
* seinen Gerichten selbständig zu über- 
assen. 
Neuerlich hat diese Bedeutung unabhängiger, 
den Eingriffen des Landesherrn und der Admini- 
strativbehörden entrückter Rechtsprechung für die 
Rechtssicherheit der Bürger noch eine ganz wesent- 
liche Bereicherung erfahren. Durch die Einführung 
dersog. Verwaltungsgerichtein fastallen zivilisierten 
Staaten hat der Satz, daß niemand Richter sein 
könne in eigener Sache, seine Anwendung auch auf 
das Gebiet des öffentlichen Rechts gefunden. Was 
oben als die letzte Etappe in der Uberwindung des 
Absolutismus bezeichnet wurde, die Anerkennung 
eines die Betätigung der Staatsgewalt als solcher 
normierenden, ihrer Willkür entzogenen Rechts, 
gewinnt erst volle praktische Bedeutung, wenn in 
ihrer Rechtmäßigkeit angezweifelte Regierungs- 
handlungen der Entscheidung selbständiger Ge- 
richtshöfe unterworfen werden. 
Ich komme zuletzt auf diejenige Einrichtung, 
welche sich am augenfälligsten als eine Beschrän- 
kung der absoluten Staatsgewalt darstellt, die 
Einführung der Repräsentativverfassung, das 
konstitutionelle System. Wie bei seiner Ausbil- 
dung Montesquieusche und Rousseausche Ideen in 
sonderbarer Mischung zusammenwirkten, wie das 
in Frankreich ersonnene, durch und durch mecha- 
nische System demnächst völlig schablonenhaft auf 
alle möglichen andern Länder ausgedehnt wurde, 
kann hier nicht ausführlich erörtert werden; daß 
es bisher nicht gelungen ist, in den Vertretungs- 
körpern das Ideal zweckgemäßer Zusammensetzung 
zu verwirklichen, sei unumwunden zugestanden. 
Aber der Grundgedanke ist doch derselbe, von dem 
unsere germanischen Vorfahren erfüllt waren: mit- 
zuraten, wo sie leisten, gehört zu werden, wo sie 
gehorchen sollten! In dem Recht der Steuer- 
bewilligung und der Kontrolle des Staatshaus- 
halts, in der verfassungsmäßig erforderlichen Mit- 
wirkung bei jedem Akt der Gesetzgebung, in 
der geregelten Form für die Verlautbarung von 
Wünschen und Beschwerden wird jeder Einsichtige 
ebenso viele Errungenschaften erblicken, deren blei-
	        
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