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angehören. Die Gegenwart hat keinen Raum
für sie“?
Gegen das mit dem neuen Ministerium De-
cazes-Pasquier mehr in den Vordergrund tre-
tende politische System des juste-milien, welches
eine Ausgleichung des immer zerrissener sich ge-
staltenden Parteilebens zugunsten eines gemä-
Kßigten Absolutismus anstrebte, aber naturgemäß
nur die radikale Opposition steigerte, erhob sich
Bonald namentlich in den Debatten über das
Preßgesetz (19. Dez. 1817), indem er für die
Tagespresse die admonitäre Zensur und für Preß-
delikte die Spezialjury verlangte. Gegen die Her-
stellung der durch die Charte abgeschafften Kon-
skription sprach er sich (19. Jan. 1818) als der
Monarchie schädlich aus; ebenso (4. April) gegen
die ungleiche Verteilung der Grundsteuer. Unter
dem lebhaften Eindruck der vor seinen Augen
wiedererstehenden Revolution verband er sich um
diese Zeit im Conservateur mit Chateaubriand,
Salaberry, Fiê#ée, Lamennais, welch letzterer ihn
als seinen „Meister“ zu grüßen pflegte, zur ent-
schlossenen Verteidigung der Religion und der
Monarchie; mit seltener, oft blendender Klarheit
deutet er die Zeichen der Zeit. Bei jeder Er-
neuerung der Kammer der Deputierten (zu einem
Fünftel) mehrten sich die alten revolutionären
Namen: 1817 Lafitte und Casimir Périer; 1818
Lafayette, Manuel, Daunou, Benjamin Con-
stant; 1819 sogar der erste „Assermentierte“, der
berüchtigte Abbe Grégoire. In gleichem Sinn
modifizierte sich das Ministerium. Im Kabinett
Decazes-Serres (Dez. 1819) war schon dem
Doktrinarismus das Ubergewicht gesichert.
Die wahrhaft sensationellen Artikel des Con-
servateur, welche den Ruf Bonalds mehr noch
als die bisherigen Arbeiten über ganz Europa
verbreiteten, erschöpften indes seine Tätigkeit so
wenig wie seine parlamentarischen Arbeiten. We-
nige Monate nach Schluß der Session veröffent-
lichte er die Recherches philosophiques sur les
premiers objets des connaissances morales
(2 Bde, Par. 1818), sein zweites, gegen die
Sensationstheorie der damaligen Materialisten
gerichtetes Hauptwerk, ganz und gar eine speku-
lative Rechtfertigung der in der Législation.
primitive grundgelegten Gesellschaftsanschauung,
insofern Bonald die tiefere Begründung der
Gesellschaftsordnung auf ihre religiös-sittliche
Grundlage durch den Erweis ihrer direkten posi-
tiven Offenbarung, dieser einzigen Quelle der So-
zialordnung, zu ergänzen und zu vollenden sucht.
Bonalds gesteigerte politische und literarische
Tätigkeit lenkte zu schnell die Aufmerksamkeit von
den großen Problemen der Recherches ab, na-
mentlich durch die noch im selben Jahr 1818 er-
scheinenden, viel besprochenen Observations sur
Touvrage de Madame la Baronne de Stadl,
ayant pour titre: Considérations sur les prin-
cipaux é6vénements de la révolution fran-
çJaise (Par. 1818).
Bonald.
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Nach Wiedereröffnung der Session votierte Bo-
nald gegen die für den Ministerpräsidenten, den
Herzog von Richelieu, beantragte National-
belohnung, (29. Jan. 1819) anläßlich der Been-
digung der Unterhandlungen für die Räumung des
französischen Gebiets durch die Truppen der Alli-
ierten. Die Entschiedenheit der Sprache gegen die
Regierung steigerte sich, als er wiederholt bei der
Budgetdiskussion die endliche Reglung der fran-
zösischen Staatsfinanzen forderte. Am 13. Febr.
erschien im Journal des Débats ein sensationeller
Artikel über die Missionen als notwendiges Mittel
zur Hebung der Religion und zur Erneurung der
sittlichen Ideen im Volke. Am 4. März stimmte
Bonald für das Gesetz der zeitweiligen Suspen-
sion der individuellen Freiheit und verlangte noch
schärfere Maßregeln. Die Zensur der Zeitungen
und periodischen Druckschriften wurde hergestellt.
In gleichem Sinn stimmte Bonald jetzt (16. Mai)
für das neue Wahlgesetz, welches dem Großgrund-
besitz die Entscheidung in den Wahlkörpern zu-
wies und gegen welches Lafayettebereits bewaffneten
Widerstand verlangte. Zugleich hatte Bonald mit
M. de Saint-Victorsich behufs noch entschiedenerer
Verteidigung der bestehenden Ordnung zur Her-
ausgabe des Défenseur verbunden und kurz vor-
her die Mélanges littéraires, philosophiques
et politiques (2 Bde, Par. 1819) herausgegeben.
Letztere, eine Sammlung der früher im Mercure
und im Journal des Débats veröffentlichten Ar-
tikel, erregten in dieser neuen Gestalt größeres
Aufsehen, trotz der abstrakten Form, in der Bo-
nald die höchsten Tagesfragen behandelte; die
schöne Literatur trat gegen metaphysische, poli-
tische, religiöse und Moralfragen ganz zurück.
Der Dekenseur konnte sich nur kurze Zeit be-
haupten, obwohl nie die monarchische Doktrin so
geistvoll und entschieden verteidigt wurde wie hier.
Die „zweite Revolution“ war und blieb im Stei-
gen. Die Neuwahlen (Nov. 1820) verstärkten zwar
die Royalisten nochmals, und Bonald wurde zum
drittenmal Präsidentschaftskandidat (26. Dez.).
Die nicht mehr endenden leidenschaftlichen Szenen
in der Deputiertenkammer riefen Bonalds tiefste
Entrüstung wach. Bei Verteidigung eines An-
trags auf Anderung der Geschäftsordnung sprach
er (April 1821) mit solcher Kraft gegen die Ty-
rannei der Minorität, daß diese tumultuarisch den
Ordnungsruf erzwang, und bei der Diskussion des
Pensionsgesetzes für die Geistlichen (7. Mai) er-
regten seine flammenden Worte über den elenden
Zustand der Religion in Frankreich so sehr die
Erbitterung der Minorität, daß Bonald einlenkte.
Sein unbeugsamer Entschluß, in heroischer Pflicht-
erfüllung auch jetztnoch in der Kammerauszuharren,
wurde indessen nach Wiedereröffnung der Session,
woer vierter Vizepräsident wurde (19. Nov. 1821),
durch seine Erhebung zum Vicomte, Staatsminister
und Pair von Frankreich vereitelt (1822).
Der Antritt des Ministeriums Villele
(1824), das unter lebhaftester Unterstützung Bo-