Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Regierungsweise für die politische und religiöse 
Gesellschaft, muß absolut sein, sagt Bonald mit 
steter Berufung auf Bossuet; ja Bonald war der 
Überzeugung, es könne nur eine naturgemäße 
Regierungsform geben, deren oberstes konstitutives 
Prinzip die Unterscheidung der drei Personen 
sei, die analog der metaphysischen Trilogie von 
Ursache, Mittel, Wirkung, in jeder Gesellschaft, 
wenn auch unter verschiedenen Namen, unter sich 
in gleichen Beziehungen, dieselben Funktionen in 
sich vereinigten, aus deren Harmonie die allein 
richtigen Sozialgesetze sich ergäben. Die drei Per- 
sonen seien in der Familie: Vater, Mutter, Kind; 
in der bürgerlichen Gesellschaft: König, Minister, 
Untertan; in der Kirche: Gott, Mittler, Mensch 
dgl 
u. dgl. 
Auf diese Weise läßt sich Bonald in seiner streng 
systematisierenden Denkart zu dem Irrtum seiner 
Methode verleiten, das mataphysische oder geo- 
metrische Vorgehen auf die Gesellschaftslehre zu 
übertragen. Wie die Mathematiker über numerische 
Werte, die Metaphysiker über ihre Ideen, ver- 
fügt er über jene freien persönlichen Gesellschafts- 
kräfte, die man Menschen nennt, ohne Rücksicht 
auf Zeit, Ort, Umstände, die eine unendliche 
Verschiedenheit unter ihnen begründen, Verschie- 
denheit des Nationalcharakters, der Sprache, der 
Lebensart, der Tradition, der Kulturstufen, nach 
denen sich die Gesetze ihrer Beziehungen unter- 
einander, d. i. die Sozialgesetze gestalten. Für 
das politische Problem ist die Bonaldsche So- 
zialtheorie daher trotz der Hoheit ihrer Ziele nicht 
annehmbar, nicht in der Absolutheit ihrer Me- 
thode, nicht in ihren Folgerungen, weil sie von 
der konkreten Wirklichkeit der politischen Lage zu 
sehr absieht. Anders liegt die Sache auf dem 
philosophischen Gebiet, wo es sich um Ideen 
und Prinzipien handelt, die einen absoluten und 
notwendigen Charakter haben. Daß Bonald auch 
hier immer das Richtige getroffen, die wissen- 
schaftliche Beweiskraft seiner glänzenden Anti- 
thesen und Analogien immer genau abgewogen 
habe, sei nicht behauptet, aber voll und ganz 
bleibt bestehen, daß er der erste gewesen, der die 
unübersteigbare Schranke der christlichen Idee 
gegenüber der revolutionär-atheistischen seiner Zeit 
gegen Destutt de Tracy, Volney, Cabanis u. a. 
mit Erfolg verteidigt hat. 
Bonald war neben J. de Meistre der erste, 
welcher der seit einem Jahrhundert in Frankreich 
herrschenden sen sualistischen Gesellschafts- 
lehre ihr Alleinrecht im Namen des Christen- 
tums bestritt. Man vergißt diesen Dienst, wenn 
man Royer-Collard und V. Cousin die Wieder- 
erhebung des Spiritualismus zuweist; letztere war 
auf metaphysischem Gebiet längst begonnen, als 
ersterer sie in seiner Erkenntnistheorie fortsetzte 
und an die Sorbonne verpflanzte; der Eklektizis- 
mus Cousins war nur eine neue Abirrung. Bonald 
war der erste, welcher gegen die Rousseausche 
Phantasie von der Wildheit als dem Natur- 
Bonald. 
  
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zustand den Sozialzustand als der Natur und der 
Bestimmung des Menschen entsprechend hinstellte, 
der den niedrigen Anschauungen Jurieus und 
Rousseaus über den Ursprung der Gewalt gegen- 
über deren göttliche Grundlage feststellte, der das 
Sophisma des Sozialkontrakts aufdeckte, den re- 
publikanischen Radikalismus mit der Einheit der 
Gewalt, die Souveränität des Volkes mit der 
Souveränität Gottes, die Erklärung der Men- 
schenrechte mit der Erklärung der Menschenpflich- 
ten bekämpfte, der mit der Riesenanstrengung 
seines Geistes den radikalsten und unheilvollsten 
Irrtum des Jahrhunderts, die Leugnung der 
göttlichen Grundlage der Gesellschaft, durch 
die Zurückführung aller Ordnung, aller Gewalt 
auf den persönlichen Gott und auf dessen un- 
wandelbaren Willen als die Quelle und Norm 
alles physischen und moralischen Lebens kühn und 
nachhaltig bestritt zu einer Zeit, wo alle Leiden- 
schaften einer atheistischen Demokratie ihm hem- 
mend und drohend im Weg standen. Wer will 
sagen, wie weit die Anregungen gingen, welche er 
durch seine Forschungen über die häusliche Ge- 
sellschaft, ihre Verfassung, die Unterordnung ihrer 
Mitglieder als das Vorbild für die Wiederher- 
stellung der öffentlichen Gesellschaft gegeben, wie- 
viel er zur Rettung derselben durch Betonung der 
Einheit aller Sozialgewalt gegen den alles zer- 
störenden Individualismus beigetragen, wieviel 
ihm die monarchischen Institutionen durch die von 
ihm oft betonte Unterscheidung zwischen absoluter 
und arbiträrer Gewalt verdanken, kurz, wieviel 
sein trotz aller Unvollkommenheit großes Genie in 
dem das Jahrhundert ausfüllenden Kampf gegen 
die Revolution allein vollbrachte! Es wäre nie 
zu entschuldigende Undankbarkeit, wollten die, 
welche ihm auf dem so glorreich gebahnten Weg 
der Erneuerung der christlichen Gesellschaftsord- 
nung gefolgt sind, dieses Vorarbeiters der ersten 
Stunde vergessen. Wenn wir heute in einer andern 
Zeit, gestützt auf die fast hundertjährige Erfahrung 
aus allen den Wechselfällen des großen Kampfes, 
den Bonald begangen gegen einen Feind, den die 
früheren Jahrhunderte so groß, so stark, so ver- 
chlagen nie gekannt, auf gebahnteren Wegen, 
zu erleuchteteren Zielen, dank den unermüdeten 
Anstrengungen des kirchlichen Lehramts und der 
Wiederaufnahme der großen Traditionen der 
kirchlichen Theologie und Philosophie fortschreiten, 
so kürzt das Bonalds Bedeutung als eines der 
kühnen Pfadfinder dieser Restauration nicht. Es 
bleibt wahr, was J. de Maistre (10. Juli 1818) 
an Bonald schrieb: „Ich weiß Ihnen unendlich 
Dank, daß Sie den edlen Angriff auf die falschen 
Götter des Jahrhunderts begonnen haben! Es 
tut not, daß sie fallen! Wir müssen durchaus 
zum Spiritualismus zurück und nicht alles dem 
„Sekretionsorgan der Gedanken [Condillac über- 
lassen“. Und mit vollem Recht konnte ein Menschen- 
alter später Bonalds Nachfolger in der Akademie, 
Ancillon, aufs neue erklären: „Die Philosophie 
  
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