Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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sance de Dieu et de soi-meme, 1. Ausg. 1722; 
Traité du libre arbitre, 1. Ausg. 1722). In 
der zweitgenannten Schrift besonders zeigt sich 
Bossuet bis in den Titel zu sehr den karte- 
sianischen Anschauungen ergeben, wie auch seine 
Bewunderung Descartes' als des eigentlichen 
Schöpfers der französischen Sprache des klassischen 
Jahrhunderts jene idealistische Geistes= und Denk- 
richtung stärkte, welche in der Billigung und Ver- 
teidigung des absolutistischen Königtums Lud- 
wigs XIV. durch die Politique tirée de I.Ecri- 
ture Sainte am schärfsten zutage treten sollte. 
Letztere für die tiefere Erkenntnis der Zeit und 
des Charakters Bossuets zu wenig benutzte Schrift 
entwarf derselbe 1677/78 in sechs Büchern ledig- 
lich für den zu Ende neigenden Unterricht des 
Dauphins. Es ist schwierig, von dem früher viel 
belobten, aber wenig gelesenen und noch weniger 
in seinen Einzellehren geprüften Buch eine kurze 
Analhyse zu geben, so reich ist dasselbe an charak- 
teristischen Zügen, so starr dogmatistisch in seiner 
Fassung und Sprache, so seltsam sind religiöse 
und politische Probleme miteinander verwoben. 
Bossuet ist hier ganz Idealpolitiker, sein Fürsten- 
ideal Ludwig XIV., sein Regierungsideal die 
absolute Monarchie, sein Ziel die Bildung eines 
jungen Fürsten nach diesem Ideal. 
In den sechs ersten Büchern handelt er aus 
diesem Gesichtspunkt zunächst (1. Buch) von den 
Prinzipien der Gesellschaft, von dem 
Entstehen der bürgerlichen Gesellschaft, der Not- 
wendigkeit ihrer Regierung, von der Teilung der 
Güter und der Trennung der Menschen in Völker 
und Nationen, unbeschadet der Einheit und Zu- 
sammengehörigkeit des Geschlechts, von der Vater- 
landsliebe, in der alle Liebe, die man für sich, 
für seine Familie und seine Freunde hat, sich ver- 
einigt für das Land, das unser Glück und das 
unserer Familien und unserer Freunde in sich 
schließt. Das wichtigste für jede Gesellschaft ist 
(2. Buch) die Autorität; die königliche, erb- 
liche, älteste und naturgemäßeste ist für die Re- 
gierung die beste; sie ist eine Gott stellvertretende 
im Vater und, im Interesse des wechselseitigen 
Schutzes, im König; letztere ersteht durch die 
Übereinstimmung der Völker, auch durch die Ge- 
walt der Waffen und das Recht der Eroberung. 
Die königliche Autorität an sich, in ihrer Natur 
und in ihren Eigenschaften (3. bis 5. Buch) ist 
heilig; Gott herrscht durch sie über die Völker. 
Der geheiligten Person des Fürsten schuldet man 
Gehorsam aus dem Prinzip der Religion und 
des Gewissens. Die königliche Gewalt ist zum 
Wohl des Volkes daz sie ist väterlich in der stän- 
digen Arbeit und Sorge für die Bedürfnisse des 
Volkes; der unnütze, träge Fürst ist so schlimm 
wie der Tyrann. Die Regierung soll von Grund- 
sätzen der Milde, der Sanftmut, der Abneigung 
gegen Gewalttat geleitet sein. Die königliche Au- 
torität ist absolut, ohne Verantwortung gegen je- 
mand; gegen sie gibt es keine zwingende Gewalt, 
Bossuet. 
  
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sie soll unüberwindlich sein gegenüber dem Kon- 
seil, den Günstlingen, dem Volk, ohne falsche 
Nachgiebigkeit, fest in der Furcht vor Gott und 
in der Bekämpfung der eigenen Leidenschaften. 
Das Gesetz der königlichen Autorität 
ist die Vernunft, ihre Regierung ein Werk der 
Vernunft und Einsicht, ihre Kunst ist die Frucht 
der von oben stammenden Weisheit, die der König 
durch das Studium des Gesetzes, der Geschäfte, 
der Gelegenheiten und Zeiten, der Menschen und 
seiner selbst sich verdienen, die er pflegen soll durch 
Wahrheitsliebe, Aufmerksamkeit, rechtes Schwei- 
gen und Reden in der Beratung mit seinen Mi- 
nistern, Behutsamkeit und weise Selbstentschei- 
dung ohne hohe Meinung von menschlichen Räten 
und nach eifrigem Gebet. So entsteht die fürst- 
liche Majestät, ein Abbild der Größe Gottes. 
Der Fürst ist eine öffentliche Persönlichkeit, der 
Staat ist in ihm, in ihm der Wille des ganzen 
Volkes, alle Macht desselben; er trägt das ganze 
Reich in seiner Hand, ohne seine Leitung ist alles 
in Verwirrung. Die Pflichten der Unter- 
tanen (6. Buch) sind Dienst und Gehorsam, 
aber beides nach dem Willen und der Einsicht des 
Fürsten, dessen Leben man als öffentliches Gut 
lieben und bis zur Hingabe des eigenen Lebens 
schützen soll. Der Gehorsam soll ein vollkommener 
sein bis auf den einen Fall, daß der Fürst etwas 
wider Gott befiehlt. Treue und Gehorsam sind 
schlechthin unverletzlich; weder gegen den guten 
noch gegen den schlechten Fürsten darf die Gewalt- 
tat gesetzt werden; nur ehrfurchtsvolle Vorstellung 
". Gebet um seine Sinnesänderung sind ge- 
tattet. 
Diese abstrakt theologische Huldigung vor dem 
absoluten Königtum, welche der Dauphin hörte, 
die Bossuet nach dem Tagebuch Ledieus, seines 
Sekretärs, nicht milderte, sondern in den letzten 
Jahren seines Lebens bis zu vier Malen präziser 
durcharbeitete und erweiterte, bedeutete einen radi- 
kalen Bruch mit dem althistorischen christlichen 
Königtum. Die „Politik“ war für den Bischof 
volle Überzeugung, keine Schmeichelei; ihm er- 
schien der Versuch, in den alten Verfassungs- 
gesetzen der Monarchie Schranken gegen den Ab- 
solutismus zu finden, „ein eitles Bemühen“, so 
sehr übersah er die Lehren der alten, freilich unter 
Ludwig XIV. ganz in den Hintergrund gedrängten 
Sorbonne. Unbeachtet blieb die Zurückhaltung 
jener Minderheit von Bischöfen, an deren Spitze 
Fenelon stand; auch das von den Päpsten, zumal 
in Frankreich so oft und glorreich seit den Tagen 
Philipps des Schönen gegen absolutistische Unter- 
drückung verteidigte Recht der Kirche schien gegen 
noch größere Anmaßung keine Warnung mehr zu 
sein. Und doch hatte Bossuet in der Vorbereitung 
der Fortsetzung seines Discours sur Tbistoire 
universelle die Geschichte Frankreichs über Karl 
d. Gr. hinaus bearbeitet — das Manusfkript ist 
verloren —, und diese Geschichte hätte ihn doch 
aus den Kapitularien der Karolinger und ihrer
	        
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