Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Schöffenfähigkeit für das Marktgericht beruhte, 
eine besondere Bedeutung für den Begriff des 
mittelalterlichen Stadtbürgers erlangen. Denn 
die stadtherrliche Gerichtsgemeinde des Markt- 
gerichts war die Vorläuferin der autonomen selbst- 
verwaltenden Bürgergenossenschaft. 
Die Unfreiheit wurzelt in der privaten Sphäre 
der Grundherrschaft. Aus grundherrlichem Land 
sind alle Märkte gegründet. Aber die Ansiedler 
sollten trotzdem nicht in das Hofrecht der grund- 
herrlichen Hörigen eintreten. Die Ansiedlung in 
einem Markte gab zwar nicht am Anfang dem die 
persönliche Freiheit, der sie nicht von Geburt besaß. 
Sie konnte und wollte das auch nicht geben. Die 
Marktgründer verliehen aber allen, welchem Ge- 
burtsstand sie auch angehören mochten, die zur 
Ansiedlung benötigte Parzelle des Marktareals 
nicht zu hofrechtlicher Gebundenheit, sondern zu un- 
beschränkter Freizügigkeit. Der Hörige war Zu- 
behör des grundherrlichen Bauernguts, das er be- 
baute, und entbehrte der Freizügigkeit. Der Markt- 
ansiedler (mercator, negotiator) empfing seine 
Hofstätte entweder zu vollfreiem und daher frei 
veräußerlichem Eigentum, oder in Gestalt einer 
für alle Ansiedler gleichartigen sog. Gründerleihe, 
kraft deren der Markt= und Stadtherr von den 
einzelnen Hosstätten einen mäßigen Grundzins 
(wortzins, herrschaftsrecht) zur Anerkennung 
eines vormaligen Grundeigentums am Marktland 
erhob. Dieser Hofstättenzins erschien frühzeitig 
lediglich als bescheidene Grundsteuer an den Stadt- 
herrn. Der Besit solchen frei veräußerlichen Markt- 
landes garantierte den Ansiedlern aber nicht nur 
ihre Freizügigkeit, er bildete, wie vorhin dargelegt 
wurde, auch die Grundlage der vollen Dingfähig- 
keit im Marktgericht. 
So waren wertvolle Ansätze von Anfang an vor- 
handen, dem Bürgerstand der mittelalterlichen 
Städte das Gepräge der Freiheit aufzudrücken. 
Zu voller Ausbildung kam der neue Stand aber 
erst seit der Zeit, da die Bürgerschaften zu Ansehen 
und Macht gelangten und ein politischer Faktor 
im Volksganzen wurden. Die Markt= und Stadt- 
gründer gaben wohl Ziel und Richtung nach der 
Freiheit hin, blieben aber vielfach auf halbem 
Wegstehen. Dagegen drängte das aus dem Schoß 
der Bürgerschaften geborne autonome Stadtrecht 
zu ihrer vollen Verwirklichung. Das deutsche Dorf 
war zuerst eine auf den Sippeverband zurück- 
führende Agrargenossenschaft und erlangte erst seit 
dem späteren Mittelalter auch eigene Dorfgerichts- 
barkeit und damit eine Position im öffentlichen 
Recht. Die deutsche Stadt war zuerst eine Markt- 
gerichtsgemeinde und entwickelte sich erst daraus 
zu einer selbständigen Bürgergenossenschaft mit 
Selbstverwaltung. Die Stadtbefestigung, die Auf- 
bringung der nötigen Geldbeträge durch Steuern, 
die Aufrechterhaltung der polizeilichen Ordnung auf 
dem ursprünglich alleinigen Stadtboden, nämlich 
auf Straßen und Plätzen, die Wahl von Gemeinde- 
ämtern, das waren die ersten Selbstverwaltungs- 
  
Bürgerstand. 
  
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aufgaben der Bürgerschaften. Besonders aber galt 
die Reglung der Aufnahme der Bürger, des Er- 
werbs und Verlustes der Bürgereigenschaft als 
vornehmste Aufgabe der autonom gewordenen 
Bürgerschaft. Erst mit dem Einsetzen all dieser 
Außerungen eines korporativen Gemeindelebens 
kann man von Stadt und Stadtrecht, von Bürger, 
Bürgerrecht und Bürgerstand sprechen. Das ge- 
schah seit dem 12. Jahrhundert. 
Gewiß ist in sehr vielen Fällen, namentlich in 
den kleineren Orten, die Bürgergemeinde fast un- 
merklich aus der Gerichtsgemeinde des Markt- 
gerichts herausgewachsen. In den hervorragendsten 
Plätzen trat als das die Marktansiedler umschlin- 
gende Band die Schwurvereinigung der germa- 
nischen Gilde hinzu, wie durch neueste Forschungen 
für den alten Handelsplatz Tiel (Holland), für die 
Kaufmannsniederlassung der St Martinsgemeinde 
in Köln, für die kaufmännische Gründergesellschaft, 
mit der Herzog Berthold III. im Jahr 1120 Frei- 
burg i. Br. ins Leben rief, nachgewiesen wurde. 
Da die Zeit der germanischen Schutzgilde jedoch 
im 12. Jahrh. in Deutschland schon fast vorüber 
war, muß der Einfluß des persönlichen Gildever- 
bandes auf die städtische Gemeindebildung mehr 
erraten werden, als daß er überall nachgewiesen 
werden könnte. So viel ist aber sicher, daß die 
persönliche Gildemitgliedschaft rasch zu einem 
Bürgerrecht mit dinglicher Grundlage geworden 
ist, insofern sie in der vorhin geschilderten Weise 
auf den Besitz von Marktland gegründet wurde. 
Nicht alle Einwohner der Stadt galten als 
Bürger. Es ist natürlich, daß als solche von An- 
beginn nur diejenigen Grundbesitzer des städtischen 
Areals in Betracht kamen, die wegen dieses Grund- 
besitzes auch schöffenfähig im Stadtgericht waren. 
Im Gegensatz zu dieser bevorzugten Klasse hatten 
die bloßen Einwohner der Stadt, die zur Miete 
wohnten oder auf einer ihnen vom Grundeigen- 
tümer zur Erbleihe verliehenen Hofsstätte saßen, 
an der Selbstverwaltung der Bürgerschaft keinen 
Teil, waren nicht ratsfähig. Da das Marktgebiet 
nicht einer unbeschränkten Ausdehnung unterlag, 
vielmehr vom Stadtherrn in genauer, bald durch 
die Befestigung zu besonders straffer Bedeutung 
erhobener Umgrenzung überlassen worden war, 
führte daher allein schon die Basierung des Bürger- 
rechts auf Eigentum am Marktland zu einer per- 
sönlich geschlossenen Gruppe der vollberechtigten 
Einwohner, die sich mit dem Uberhandnehmen der 
andern Elemente als bevorrechteter Stand, als- 
„alte Geschlechter“ oder, wie man seit der Renais- 
sance nach altrömischem Vorbild sagte, als Patri- 
ziat zur Geltung brachten. Wo gar von Anfang an 
der persönliche Verband einer Gilde wirksam war, 
versteht es sich noch leichter, daß nur die Gilde- 
genossen zu vollem Recht Bürger waren. 
Mit dem Selbständigwerden der Bürgerklassen 
gegenüber dem Stadtherrn vollzog sich in ihrer 
Zusammensetzung mancher bedeutsame Ausgleich. 
Wir wissen aus zahlreichen Belegen, daß die 
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