Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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die Macht des Menschen über die Natur) zu, und 
der Wert (Macht der Natur über den Menschen, 
Maß des Widerstands, den sie der Befriedigung 
seiner Wünsche entgegensetzt) nimmt in demselben 
Maß ab. Wenn der Wert der Lebensbedürfnisse 
sinkt, steigt der Wert des Menschen unter bestän- 
diger Entwicklung der Individualität und bestän- 
diger Zunahme der Sicherheit im Genuß der 
persönlichen und Eigentumsrechte. Wenn die 
Personen und das Eigentum sicherer werden, 
werden die Menschen und das Kapital mehr fixiert 
und die latenten Kräfte der Natur mehr und mehr 
entwickelt werden, es entsteht eine erhöhte Ten- 
denz zur Schaffung lokaler Zentren und zur Ver- 
wirklichung des schönen Systems, welches das 
Universum, von dem die Erde einen Teil bildet, 
in Ordnung hält. Wenn die lokalen Zentren an 
Zahl und Anziehungskraft zunehmen, wächst die 
Assoziationskraft beständig, und jeder Schritt in 
dieser Richtung ist begleitet von einer Verminde- 
rung der Notwendigkeit, die Dienste des Handels- 
manns zu benutzen, von Zunahme der Produk- 
tionskraft, von Kapitalzuwachs und Zunahme der 
Zirkulationsgeschwindigkeit nebst entsprechender 
Zunahme des Verkehrs. Je geringer die Arbeits- 
quantität, die auf Bewerkstelligung von Orts- 
veränderungen verwendet wird, desto größer die 
Ouantität, die auf die Produktion verwendet 
werden kann: ein Gedanke, der oft wiederkehrt. 
Auf allen Stufen dieser Kausalzusammenhänge 
deckt nämlich Carey die Schattenseiten „britischen 
Systems“ auf, bekämpft mit Eifer die englische 
Handelsmacht und die Schädigung anderer Na- 
tionen durch dieselbe. Nicht der Handel, der inter- 
nationale Warenaustausch (trade), welcher zen- 
tralisiere und monopolisiere, sei zu begünstigen, 
sondern der Verkehr, Binnenhandel (commerce), 
die lokal mannigfaltigen Austausche, die Schaf- 
fung lokaler Zentren, die lokale Paarung der agri- 
kolen und industriellen Kräfte. Der Verkehr, der 
Akt, durch welchen Verbraucher und Hervorbringer 
ihre Leistungen austauschen, ist als die Haupt- 
sache zu begünstigen. Der Handel ist nur das 
selbständige Werkzeug, durch welches jener Ver- 
kehr vermittelt wird. Der zwischen Verbraucher 
und Hervorbringer stehende Handelsmann strebt 
nach Profit im Verkauf und sucht die Konkurrenz 
so zu gestalten, daß sie ihm die höchsten Gewinne 
bringt, ohne Rücksicht auf die faux frais un- 
nötiger Transportkosten und Vergeudung mensch- 
licher Arbeitskräfte. 
Bei der stets erneuten Darlegung dieser Kausal- 
zusammenhänge fehlt es nicht an Ubertrei- 
bungen und Mängeln, die sich aus Careys Auto- 
didaktik ebenso wie aus seiner schriftstellerischen 
Praxis leicht erklären. Vor allem sind die natur- 
wissenschaftlichen Analogien bis zum 
Übermaß ausgesponnen, ja die physischen und 
sozialen Gesetze nahezu identifiziert. Die den Stoff 
beherrschenden Gesetze seien überall und durch- 
gängig dieselben, ob in seiner rohen Gestaltung 
Carey. 
  
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oder in der Form des Menschen (ogl. sein letztes 
Werk: The unity of law (1872, deutsch von 
Stöpel, 1878). Richtig ist, daß die Wissenschaften 
zueinander im Verhältnis stehen und in letzter 
Linie die Wahrheit eine ist; aber damit ist noch 
lange nicht die Identität der Gravitations- und 
der Assoziationsgesetze behauptet, und die An- 
ziehungskraft, welche die Planeten in ihrem Gang, 
die Menschen in ihrer Verteilung auf die verschie- 
denen Ansiedlungen beherrscht, ist durchaus nicht 
dieselbe. Was von den Gesetzen der Anziehung 
und Abstoßung, der Zentripetalität und Zentri- 
fugalität, der Wärme und der Kälte im sozialen 
Leben gesagt wird, bleibt Analogie, Gleichnis, und 
bricht sich an der Eigenart des Rechtslebens, das 
mit der Freiheit des Willens und der freien Ent- 
schließung zu Recht oder Unrecht untrennbar ver- 
bunden ist. Die naturwissenschaftlichen Kennt- 
nisse können der politischen Okonomie gewiß gute 
Dienste leisten, ein Beispiel bietet die oben er- 
wähnte Liebigsche Bodenerschöpfungslehre, — sie 
müssen jedoch in den richtigen Schranken ver- 
wertet werden. Die Bekämpfung der Malthus- 
schen Lehre durch die naturgeschichtliche Erfahrung 
der geringen Vermehrung der am feinsten organi- 
sierten Tiere, womit das vereinzelte Beispiel der 
geringen durchschnittlichen Kinderzahl der ameri- 
kanischen Präsidenten in Beziehung gebracht wird, 
ist wenig stichhaltig. 
Neben den naturgeschichtlichen Analogien sind 
auch Careys geschichtliche Entwicklungs- 
gesetze wenig verläßlich, und das meist nur in 
beschränktem Sinn. Nach Carey ist die Verbesse- 
rung der Lage der Arbeit ein Teil der Kultur- 
zunahme, und dies sei auch (ausgenommen die 
unter der Handelsherrschaft stehenden Länder) bis 
zur Gegenwart nachweislich: „Im Mittelalter 
wüteten in Frankreich fast ununterbrochen Kriege, 
daher war bis zum Ausbruch der französischen 
Revolution das Recht zu arbeiten ein Privile- 
gium“ (Grundlagen Kap. 44). In Wirklichkeit 
ist die verknöcherte Privilegienwirtschaft erst ein 
Produkt der Zeit des Absolutismus, und die Ar- 
beit juristisch (abgesehen von den technischen Ver- 
besserungen und der Produktionsvermehrung seit- 
her) nie günstiger gestellt gewesen als in der kano- 
nistischen Zeit, wo die zweitwichtigste Einkommens- 
art, die Besitzrente, das Einkommen nur aus Be- 
sitz, einer sehr strengen Kontrolle unterlag. — Ein 
anderes „Gesetz“ bestehe darin, daß die ursprüng- 
lich im eigenen Interesse des Kriegers geübte 
Tätigkeit späterhin auf das Maß einer innern 
und äußern Sicherheit zurückgeführt werde. Zwar 
dehne sich der Kriegsapparat aus, allein die be- 
treffenden Funktionen bildeten einen immer ge- 
ringeren Bruchteil der Lebensenergie der ganzen 
Gesellschaft. Angesichts der Kosten des Militaris- 
mus und der Abnahme der Heiligkeit des Völker- 
rechts ist jenes „Gesetz“ doch nur eine gewagte 
Behauptung; nicht kriegerischer Fortschritt, sondern 
die Verminderung des Kriegs hat als Maßstab
	        
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