1111
folgenden Jahrs fiel Weihaiwei, und als nun
auch noch Niutschwang in die Hände der Japaner
gefallen war, bequemte sich China endlich zu
Friedensverhandlungen. Die in Schimonoseki
von Li Hung-tschang getroffenen Abmachungen
kamen nicht in vollem Maß zur Durchführung:
Abtretung von Formosa, der Pescadoresinseln,
Kriegskostenersatz unter Verpfändung von Wei-
haiwei und Abtretung der Halbinsel Liautung
mit dem wichtigen Kriegshafen Port Arthur, von
dem aus Japan Peking aus nächster Nähe hätte
kontrollieren können. Dies weckte Rußlands Eifer-
sucht, welchem es gelang, mit Hilfe Deutsch-
lands und Frankreichs Japan um diese Frucht
des Siegs zu bringen, die es dann alsbald selbst
einheimste nebst Talienwan und der wichtigen
Konzession der ostsibirischen Eisenbahn, die eine
tatsächliche Besetzung der Mandschurei und damit
die unmittelbare Kontrolle des chinesischen Hofs
durch Rußland zur Folge hatte. England seiner-
seits spielte den japanischen Pfandhafen Weihai-
wei in seine Hände. Damit war ein neuer Wett-
bewerb der Mächte um Konzessionen in China
eröffnet. Im Zusammenhang mit den Unruhen
der Geheimbündler und ihren Angriffen auf die
Missionen erwarb das Deutsche Reich 1897 „pacht-
weise“ das Gebiet von Kiautschon und Süd-
schantung als Interessensphäre. In dieser Pro-
vinz fielen ihm Eisenbahnbauten zu, während
Frankreich und England sich den Bau anderer
großen Überlandverbindungen zusichern ließen.
England beanspruchte das ganze Flußgebiet des
Jangtzekiang als sein Interessengebiet, während
Frankreich in Südchina im Anschluß an seinen
tonkinesischen Besitz Verkehrsprivilegien verlangte.
Rußlands Einfluß erwies sich mit der Zeit als
der immer stärker werdende; es benutzte das Alt-
chinesentum und dessen Fremdenfeindschaft, um
in aller Stille nachhaltig die chinesische Politik
zu beeinflussen, wobei es gern den Schein des
Einflusses opferte. Die Kaiserin-Mutter ver-
folgte die den Neuerungen zugänglichen Beamten
hartnäckig und setzte auch den moderner denkenden
Kaiser Kwangsü, der u. a. das Zeremoniell des
Empfangs der fremden Gesandten zeitgemäß ab-
geändert hatte, ab, dem sie ein Kind zum Nach-
folger gab, Pu Tsing (im Febr. 1900). Im
Frühjahr 1900 planten die seefahrenden Mächte
eine Flottenkundgebung im Golf von Tschili
gegen die rückgängige, vertragsfeindliche chinesische
Politik.
Die Fremdenfeindschaft hatte in den verbreiteten
Geheimbünden stets einen kräftigen Nährboden;
vor allem zeigte sie sich in der Belästigung, Ver-
folgung, ja Ermordung von Missionären und Be-
kehrten. So brach 1889 im Bezirk Tschinkiang,
1891 im südlichen Setschwan ein Aufstand aus;
beide Aufstände richteten sich außer gegen die Re-
gierung mehr oder weniger auch gegen die christ-
lichen Niederlassungen. Die katholischen Missionen
im Jangtzekiang = Gebiet litten besonders schwer
China.
1112
in dem 1891 auf Grund einer Verschwörung von
Wuhn ausgegangenen Aufruhr; die Bewegung
ergriff Nanking, Tanjang, Kiangsi, Hankou,
Itschang usw.; überall wurden blühende Mis-
sionsanstalten der Katholiken zerstört. Ende 1891
brach ein Aufruhr im nördlichen Tschili aus,
wobei zahlreiche Bekehrte ihr Leben verloren. 1892
fand sich dann die chinesische Regierung auf den
Druck hin, den die Mächte ausübten, zu Ent-
schädigungen bereit.
Hinsichtlich der Missionen der römisch-katho-
lischen Kirche in China beanspruchte Frankreich
die alleinige Schutzherrschaft. Diese ist jedoch, da
Frankreichs Schutz versagte, durchbrochen worden
durch die Tatsache, daß in Schantung deutsche
und italienische Missionäre sich dem Schutz ihres
bezüglichen Vaterlands unterstellt haben. Als
1897 in Südschantung deutsche Missionsanstalten
vom chinesischen Pöbel angegriffen und die beiden
Missionäre Henle und Nies ermordet wurden,
forderte das Deutsche Reich ausgiebige Entschädi-
gung und ließ durch Marinemannschaften das Ge-
biet von Kiautschou besetzen. Es kam dann ein
Pachtvertrag auf 99 Jahre zustande. Von Tsin-
tau aus, welches zum Hauptort von Deutsch-China
ausgebaut wurde, übte der deutsche Gouverneur
den Schutz der deutschen Missionäre im Bezirk
Südschantung und der zur Aufschließung dieses
Landes von deutscher Seite angelegten Eisenbahn-
bauten aus. Böser Wille und Hinterlist der Man-
darine erschwerten diese Aufgabe in beträchtlichem
Maß, und ihre Durchführung stockte gänzlich,
als 1899 im nördlichen innern und südlichen
China plötzlich mit elementarer Gewalt der Frem-
denhaß losbrach. Diese Bewegung war offenbar
schon lange vorbereitet; Missionäre ließen den
fremden Gesandten rechtzeitig Warnungen zu-
kommen, doch fanden sie nur hie und da Glauben.
„Tod den Fremden, Schutz der Dynastie“ war
die Losung der an Zahl sehr bedeutenden Banden,
welche sich über die Missionen und fremden im
Lande tätigen Unternehmer, Ingenieure, Kauf-
leute hermachten, viele von denselben töteten und
gleichzeitig vor allem auch unter den eingebornen
Christen — der Haß gegen die Fremden deckt sich
mit demjenigen gegen das Christentum — Metze-
leien veranstalteten. Die Gründe für diese furcht-
bare Bewegung wurden verschieden angegeben.
Das den Chinesen widerwärtige wirtschaftliche
Eindringen in ihr Land, die Tätigkeit und Er-
folge der Missionen, die Besetzung chinesischer
Gebietsteile gehören dazu. Außer Deutschland,
welches Kiautschou-Tsintau auf 99 Jahre „pach-
tete“", nahm Rußland unmittelbar darauf, am
27. Dez. 1897, die wichtigen Häfen Port Arthur
und Talienwan auf 25 Jahre in „Pacht“, Eng-
land den Hafen Weihaiwei und ein größeres
Küstengebiet gegenüber Hongkong. Jene fremden-
feindlichen Banden nannte man Boxer, nach einer
von englisch-amerikanischer Seite mit Bezug auf
ein Symbol (die Faust) gewählten Bezeichnung.