Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Früher sprach man von der Sekte vom großen 
Messer, der auch die Ermordung der beiden ge- 
nannten Missionäre zuzuschreiben ist. In Massen 
wandten sich die Boxer der Hauptstadt Peking zu 
und füllten dieselbe mehr und mehr. Die Ge- 
sandten, endlich auch in Besorgnis, verlangten von 
ihren Regierungen vermehrten Schutz. Kleinere 
fremde Detachements gelangten Anfang Juni auch 
noch in die Hauptstadt hinein, dann aber war 
diese ganz von der Außenwelt abgeschlossen, und 
man befürchtete für die 1000 Fremden in Peking 
das Schlimmste. Die Gesandtschaften wurden nun 
zwei Monate lang belagert und den größten Teil 
dieser Zeit beschossen, nachdem die chinesische Re- 
gierung sie vergeblich zum Verlassen Pekings unter 
ihrem Schutz aufgefordert hatte. Was diese Auf- 
forderung bezweckte, ergab sich aus einem später 
aufgefundenen Erlaß, wonach die Gesandten auf 
dem Weg nach Tientsin hätten umgebracht wer- 
den sollen. Den Gesandten wurden vollends die 
Augen geöffnet durch die Ermordung des deutschen 
Gesandten v. Ketteler auf der Straße, als derselbe 
sich zum Tsungli Jamen begeben wollte. Die 
Gefahr der Fremden in Peking veranlaßte Deutsch- 
land, Japan, Rußland, England, Frankreich und 
die Vereinigten Staaten zu schneller Entsendung 
von Marinemannschaften nach Taku, von wo eine 
internationale Abteilung unter Admiral Seymour 
nach Peking zum Entsatz marschieren sollte. Zu- 
nächst wurden die Forts bei Taku erstürmt, wo- 
rauf sich Seymour in Bewegung setzte. Doch ge- 
langte er nicht bis Peking, geriet durch Boxer und 
kaiserliche Truppen vielmehr so sehr in Bedrängnis, 
daß er sich zurückziehen und dann, in der Nähe 
Tientsins eingeschlossen, selbstentsetzt werden mußte. 
Um Tientsin selbst wurde auch hart gekämpft, bis 
die verbündeten Truppen endlich sich dauernd dieser 
Stadt bemächtigten. Die Frage des Entsatzes Pe- 
kings stand nach wie vor im Vordergrund. Es 
folgte Vorschub von Truppen — Deutschland 
mobilisierte nach und nach 21000 Mann —, 
doch stockte der Vormarsch auf Peking mangels 
einheitlicher Leitung. Die Mächte einigten sich 
nun auf den deutschen Feldmarschall Grafen 
Waldersee als Oberbefehlshaber, der alsbald nach 
China abreiste. Unterdessen kam aber doch der 
gemeinsame Vorstoß auf Peking zustande, und 
am 13. Aug. waren die Gesandten entsetzt, nach- 
dem die vorrückenden Verbündeten auf dem Zuge, 
dann an den Toren Pekings verschiedene Kämpfe 
bestanden hatten. Die chinesische Regierung, an 
der Spitze die Kaiserin-Witwe und Prinz Tuan, 
ihr böser Ratgeber, hatten die Flucht ins Innere 
ergriffen. Rußland, das in der Mandschurei mit 
chinesischen Truppen zahlreiche Kämpfe zu bestehen 
hatte und augenscheinlich darauf bedacht war, die 
dort erzielten Erfolge durch Okkupation zu dau- 
ernden zu gestalten, drang nun auf eine Politik 
der „Mäßigung“ China gegenüber; die Verbün- 
deten sollten ihre Truppen aus Peking zurückziehen, 
da ja der erste Teil des gemeinsamen Programms: 
China. 
  
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Befreiung der Gesandten, Sühne, Bürgschaften 
für die Zukunft, erledigt sei. Die Vereinigten 
Staaten und Frankreich stimmten Rußland bei, 
das Deutsche Reich und England sahen eine be- 
deutende Erschwerung der Durchführung der beiden 
andern Programmpunkte in dem Rückzug der Trup- 
pen. Die Mächte blieben wegen der verschiedenen 
Ziele ihrer Politik noch geraume Zeit uneinig; 
in der Entschädigungsfrage zeigte sich Amerika 
formell uneigennützig, Rußland seinerseits dachte 
sich in der Mandschurei dauernd festzusetzen, doch 
wurde diese Absicht durch den gemeinsamen Ein- 
spruch der übrigen Mächte gegen jede Gebietsab- 
tretung durch China vereitelt. Immerhin behielt 
Rußland praktisch eine solche Stellung in der 
Mandschurei und nützte diese in einer Weise 
aus, daß der nur etwas kundige Beobachter die 
Auseinandersetzung mit Japan kommen sehen 
mußte. Auch wiesen die umfassenden militärischen 
Vorbereitungen Japans (trotz seiner Finanzmisere) 
darauf hin. 1902 kehrte der chinesische Hof nach 
Peking zurück, und die regelmäßige Regierung 
wurde wieder ausgenommen. Die Mächte räumten 
nach und nach die noch von ihren Truppen be- 
setzten Stellungen, was nicht ohne Eifersucht 
abging. 1903 brachen in einigen Provinzen 
neue Unruhen aus. Im russisch-japanischen Krieg 
beobachtete China Neutralität, doch wurde es 
materiell und hinsichtlich seiner Souveränität in 
Mitleidenschaft gezogen, da ja der Krieg sich auf 
ihm gehörigen Grund und Boden abspielte. Der 
Sieg Japans gab China einen starken moralischen 
Anstoß. In wenigen Jahrzehnten hatte das kleine, 
verachtete Japan sich zu einer Großmacht ent- 
wickelt, die den russischen Koloß niederwarf. Sollte 
das große China mit seiner alten Kultur nicht zu 
einer weit größeren Macht emporsteigen können? 
Nun setzte die Reformbewegung ein, rücksichtslos 
von amtlicher höchster Stelle bekämpft, soweit 
Private sie zu leiten suchten, aber von der Re- 
gierung mit sich drängenden Reformdekreten selbst 
aufgenommen. Aber die Überstürzung war eben- 
so verfehlt wie die Meinung, daß das chinesische 
Volk sich einem Reformexperiment mit gleichem 
Erfolg fügen werde wie das japanische mit seiner 
wunderbaren Beweglichkeit! Dazu hatte Japan 
ein großes Interesse daran, China sich nicht aus 
sich selbst heraus erneuern zu lassen, es vielmehr 
am Zügel zu führen. In der Mandschurei sich an 
Rußlands Stelle setzend spielte Japan den Herrn, 
bereit, China seine Kriegsmacht fühlen zu lassen, 
wenn es gegen den Stachel löke. Die gleiche Er- 
scheinung zeigte sich, als Anfang 1908 China 
einen japanischen Dampfer (Tatsumaru) wegen 
Waffenschmuggels beschlagnahmte. Japan setzte 
trotz der starken nationalen Volksbewegung in 
Kanton seine auf Genugtuung gerichtete Forde- 
rung durch. 
2. Areal und Bevölkerung. Der Flächen- 
inhalt des gewaltigen Reichs beträgt 11138880 
aqkm mit 330 130 000 Bewohnern, 30 auf
	        
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