Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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diener, Munizipalgarden usw., welche größten- 
teils von ungesetzlichen Sporteln leben und sich 
um die Pflichten ihres Amtes wenig kümmern. 
Die Verwaltung der Gemeinde#angelegen- 
heiten hat einen privaten, patriarchalischen Cha- 
rakter. Die zahlreichen, weit ausgebreiteten Fa- 
milien bevölkern meist ganze Dörfer, deren Leitung 
in den Händen des Familienoberhaupts ruht, das 
auch von der Regierung als Vertreter der Dorf- 
genossenschaft angesehen wird; ihm zur Seite stehen 
eine Anzahl Vertrauensmänner, die das Los be- 
stimmt. Flecken haben zwei solche Beamte; in den 
Städten ernennen die Kaufleute einer Straße einen 
Vorsteher; größere Straßen haben 3 bis 4. Der 
Munizipalrat (in Dörfern 70 bis 80, in Flecken 
100 bis 180 Personen, also wohl die Gesamtheit der 
Familienväter, in Städten nur 60 bis 70 Mitglie- 
der) wird von kaiserlichen Kommissären überwacht 
und versammelt sich im Tempel oder im Gemeinde- 
haus. Seine Hauptaufgabe ist die Erhaltung der 
Tempel, die Reglung des Gottesdienstes, die Be- 
stellung der Lehrer und die Erhebung der nötigen 
Beisteuer an Geld und Naturalien von den Be- 
zirkseingesessenen. Auch die Polizeiverwaltung 
übt er fast ohne obrigkeitliche Kontrolle, denn die 
Regierung ist zufrieden, ihre Steuern zu emp- 
fangen; dafür fehlt an keinem Ort ein öffentlicher 
Einnehmer. Auch die größeren Städte verwalten. 
sich nicht als ein Ganzes, sondern sind in ver- 
schiedene Straßengemeindenzersplittert; nur Peking 
hat keine Munizipalverfassung, sondern steht unter 
einer Militärpolizei, deren Kosten der Staat trägt. 
Die öffentliche Rechtspflege wird rasch und 
unparteiisch ausgeübt. Advokaten sind unbekannt, 
und fest besoldete Richter walten unentgeltlich und 
jedermann zugänglich ihres Amtes. Da Rechts- 
pflege und Verwaltung noch nicht getrennt sind, 
fungieren in den kleineren Ortschaften die Orts- 
vorsteher zugleich als Richter. Bei Kapitalver- 
brechen geht die Sache durch 5 bis 6 Gerichte an 
eine letzte Instanz, die sich aus dem Justizmmi- 
sterium, dem Hof der kaiserlichen Zensoren oder 
Großuntersuchungsrichter und dem hohen Kassa- 
tionshof zusammensetzt. Alle Todesurteile wer- 
den außer wenigen, unaufschiebbaren Fällen an 
einem Tag des Jahrs vollzogen. Bevbor sie der 
Kaiser unterzeichnet, gelangen sie zur nochmaligen 
Revision an ein höchstes, aus neun Richtern be- 
stehendes Tribunal. Das Kriminalgesetzbuch (Ta- 
tsing Liuli, 1810 von Staunton ins Englische und 
1812 von Renouard de Ste-Croix ins Französische 
übertragen) erscheint von fünf zu fünf Jahren in 
einer neuen, revidierten Auflage und befindet sich 
in jedermanns Hand. In 436 Titeln enthält es 
nicht nur sämtliche Strafgesetze, sondern auch zahl- 
reiche polizeiliche und andere auf Familienleben, 
Umgang, Etikette usw. bezügliche Bestimmungen. 
Da eine Zivilgesetzgebung fehlt, ist das Verfahren 
in dieser Beziehung sehr einfach; die meisten 
Streitigkeiten werden von den Familienhäuptern 
und Dorfältesten beigelegt. Die Gesetze über das 
Staatslexikon. I. 3. Aufl. 
China. 
  
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Grundeigentum handeln fastnur von der Erhebung 
der Grundsteuer. — Die durch Vertrag geschützten 
Untertanen fremder Staaten genießen das Recht 
der Exterritorialität, d. h. sie stehen unter der Ge- 
richtsbarkeit des Vertreters ihrer Nation, welcher 
nach den Gesetzen seines Landes entscheidet. 
4. Als Staatsreligion Chinas gilt die Lehre 
des Konfutse, weil sich der Kaiser mit allen 
Staatsbeamten und Gelehrten zu derselben be- 
kennt; der weitaus größte Teil der Einwohner 
gehört aber dem Buddhismus, eine geringe Zahl 
dem Taoismus (Religion des Laotse) an. Die 
älteste, ursprüngliche Religion des chinesischen 
Volks bestand in einem Naturkultus, den Fohi 
als Reichsreligion in bestimmte Formen brachte, 
die jetzt noch größtenteils vorhanden sind. Der 
Glaube an die Unsterblichkeit der Seele scheint 
schon frühzeitig verwischt worden und in einen 
Ahnenkult übergegangen zu sein, der noch heute 
charakteristisch für alle chinesischen Verhältnisse ist. 
Ein Priesterstand fehlte; der Kaiser, die Vasallen- 
fürsten, Stammes= und Familienfürsten verrich- 
teten die priesterlichen Funktionen. Im 6. Jahrh. 
v. Chr. entstand das Religionssystem des Konfutse 
(551/478), welches ausschließlich aus weltlichen 
Sittenlehren besteht und die Anschauungen eines 
Volks widerspiegelt, dem das Bewußtsein einer 
ewigen Vergeltung fehlt. Die Pietät war und 
blieb der Grundzug des chinesischen Lebens, die 
Ahnentafel das Familienheiligtum. Der Gottes- 
dienst besteht in Opfern (Ochsen, Schafe, Schweine, 
Seidenzeug), welche man selbst darbringt in Tem- 
peln, die jeder größere Ort besitzt; es sind auch 
Berufspriester vorhanden, die jedoch in keinem 
Ansehen stehen. — Ungefähr ein Jahrhundert vor 
Konfutse hatte Laotse (Lipejang) die Taosse-Sekte 
gestiftet und im Taoteking seine Lehren nieder- 
gelegt. Nach ihr besteht die höchste sittliche Voll- 
kommenheit in der wahren Erkenntnis des höchsten 
Wesens, der Vernunft, zu der nur eine durch 
Herzensreinheit, Geistesruhe und Herrschaft über 
Begierden zu erreichende tiefgläubige Einsicht führt. 
Die ursprünglich erhabene Lehre des Laotse wurde 
meist mißverstanden und zu einem Zerrbild um- 
gestaltet. Gegenwärtig sind die Anhänger, die 
ihren Hauptsitz in der Provinz Kiangsi haben, 
einem groben Mystizismus ergeben. — Der 
Buddhismus endlich kam 65 n. Chr. von 
Indien nach China und verbreitete sich besonders 
unter den niedern Klassen. Anstatt aber auf die 
Denkweise des Volks einzuwirken, ist er vielmehr 
vielfach umgestaltet und zum rohen Heidentum und 
Götzendienst geworden. Die Indolenz und bettel- 
hafte Aufdringlichkeit der zahllosen Priester und 
Mönche machen ihn besonders den Anhängern des 
Konfutse verächtlich; trotzdem ist das Land mit 
buddhistischen Klöstern übersät, und der weitaus 
größte Teil der Bevölkerung hängt dem Buddhis- 
mus an, der in der Mongolei und Tibet Lama- 
ismus genannt wird. — Die Bekenner dieser drei 
verschiedenen Religionssysteme stehen jedoch in 
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