Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Anschauung (Mohl) fällt wohl jede mit An- 
wendung der Amisgewalt begangene Handlung 
unter diejenigen, für welche der Beamte als solcher 
Rechenschaft zu geben hat. Constant begnügt sich 
nicht mit Ministerverantwortlichkeit, er möchte alle 
Beamten, und zwar vor Geschwornengerichten (), 
verantwortlich wissen. 
In der Frage nach der Stellung des König- 
tums im System des Konstitutionalismus ver- 
teidigt Constant das Prinzip der Beschränkung der 
Souveränität, wie es Sieyês aufstellte. Danach 
handelt nicht der König, er wählt nur diejenigen, 
welche handeln sollen, und sieht er, daß sie dazu 
nicht imstande sind, so wählt er andere. Die kö- 
nigliche Gewalt ist von der vollziehenden zu tren- 
nen, um Streit und Parteilichkeit zu vermeiden. 
Jene steht unparteiisch und vermittelnd über allen; 
des Königs Interesse ist, daß alle sich stützen und 
einträchtig wirken. Diese berühmt gewordene For- 
mel von der Neutralität der königlichen Ge- 
walt erschien zuerst im Journal des Débats vom 
21. April 1814. — Der alten Teilung der drei 
Gewalten fehlte es an der richtigen Vermittlung, 
an einem Regulator, welcher verhütet, daß die 
eine die andere in ihrer Bewegung hemmt und 
verwirrt. Während nach dem monarchischen Prin- 
zip die oberste Einheit der Staatsgewalt in der 
Person des Monarchen ruht, steht nach jener Lehre 
die gesetzgebende Gewalt dem Volke bzw. der Kam- 
mer zu, die vollziehende Gewalt ruht in den Händen 
verantwortlicher Minister, die richterliche in der 
Hand eines unabhängigen und unabsetzbaren 
Richterstands. Das Bedürfnis einer Macht, welche 
die Harmonie, das „Gleichgewicht jener Ge- 
walten“ erhalten sollte, führte zur Forderung einer 
von jenen verschiedenen Zentralgewali, die sich zu- 
nächst neutral verhalte und nur berufen sei, die 
ungestörte Tätigkeit der andern Gewalten zu 
schützen: Le roi regne, mais il ne gouverne 
pas. — Es ist ein gewisser Fortschritt, daß Con- 
stant die verloren gegangene Einheit wieder auf- 
uchte in einer regulierenden Macht, in einem Zen- 
tralorgan, also in Monarchien dem Monarchen. 
Indem jedoch Constant den Monarchen zur Ruhe 
und Neutralität verwies, versetzte er die eigentliche 
Aktion in die Kammer und die Ministerien, also 
außerhalb des Zentralorgans, das lediglich zur 
Bestätigungsmaschine oder, nach dem derben Aus- 
druck Bonapartes gegen Abbe Sieyès, zum cochon 
à Tengrais herabgedrückt wurde. Nur wo die 
entscheidende Zentralmacht eine aristokratische ist, 
wird die daneben fortdauernde königliche Gewalt 
vorzüglich auf jene neutrale und vermittelnde Hal- 
tung als ihre letzte Reserve sich zurückziehen können, 
wie das in England der Fall ist, während auf dem 
Kontinent durch Regierung und Revolution ge- 
rade jene Elemente und Einrichtungen — Stände, 
Korporationen, Adel, Kirche, Selbstverwaltung — 
vernichtet oder geschwächt wurden, die allein dem 
Verfassungsleben den sozialen Halt geben. — Die 
Theorie vom neutralen Königtum hält stand, so- 
  
Constant de Rebecgque. 
  
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lange die übrigen Gewalten nicht in Konflikt ge- 
raten. Louis Philippe suchte seine prinzipiell un- 
haltbare Stellung durch ein System von Intri- 
guen zeitweilig möglich zu machen. Er vermochte 
aber mit diesen Mitteln nur so lange zu regieren, 
als es friedlich zuging oder doch nur kleine Kon- 
flikte zu begleichen waren oder ein raffiniert zu- 
sammengesetztes, sich selbst aufreibendes Partei- 
wesen Lebensverlängerung bot. 
Wie in dieser Hinsicht begegnet man auch 
anderwärts manchen beachtenswerten politischen 
Wahrheiten bei Constant. Er tritt für unantast- 
bare Rechte des Individuums ein. Die Unbe- 
schränktheit der Volkssouveränität ist ihm gerade 
so despotisch wie das unbeschränkte Ancien Régime. 
Die Gesetzmacherei ist die Krankheit des Repräsen- 
tativstaats, der Mangel an Gesetzen die Krankheit 
der absoluten Monarchie. Hier macht sich alles 
durch Menschen, dort alles durch Gesetze. (Der 
konstituierenden Versammlung hat de Meistre 
2557, der legislativen 1712, dem Konvent 11210 
neu verfertigte Gesetze nachgerechnet, 15479 in 
sechs Jahren!) Bemerkenswert sind die mitunter 
geistreichen Außerungen Constants gegen die Zen- 
tralisation, sein Eintreten für die Anhänglichkeit 
an Ortsgebräuche. Was nur einen Teil des Volks 
angeht, soll auch nur durch ihn entschieden wer- 
den. Die Verschiedenheit ist Organisation, die 
Einförmigkeit ist Mechanismus, die Verschieden- 
heit ist Leben, die Einförmigkeit ist Tod. — Die 
autonomistische Stellung der kleinen Gemeinwesen 
hob Constant dadurch, daß er neben den andern 
Gewalten noch eine sog. „munizipale Gewalt“, 
welche den Magistraten, Gemeinden zustehe, an- 
nahm. Interessant sind seine Bemerkungen über 
das allgemeine Stimmrecht (Constant wollte das 
Stimmrecht ursprünglich auf die Grundbesitzer, 
propriétaires, beschränken), ferner über die Not- 
wendigkeit eines Oberhauses, chambre héré- 
ditaire, für eine Monarchie, über die Bedenk- 
lichkeit der Staatsschulden; bekannt ist den Ver- 
fechtern der Sonntagsheiligung Constants scherz- 
weise Außerung über die decadis der französischen 
Revolution, die nach Constant zwei Feinde hatten: 
la barbe et la chemise blanche. — Über 30 
Jahre hat Constant auf Ausarbeitung seines 1824 
bis 1830 erschienenen Werks über Religion 
verwendet. Er erkannte, daß sich auf die „Sand- 
bank“ des politischen Liberalismus nichts von 
Dauer bauen lasse, und versuchte die tiefere soziale 
Fundamentierung seiner politischen Ideen durch 
seine Studien über die Religion als die Grundlage 
alles sozialen Lebens: ein langes, vergebliches 
Ringen mit der ungläubigen Skepsis der Revo- 
lution, welches dem kontinentalen Liberalismus 
den Glauben an das einzige religiöse Dogma bei- 
bringen sollte, zu dem er sich prinzipiell bekennt: 
die Dogmenreligion ist Gefühlssache. Rousseau 
war der Ausgangspunkt, Jacobi, Kant und die 
schottische Schule wurden die Stützen der Con- 
stantschen Anschauungen von dem Gefühl,
	        
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