Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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haben, ohne redliche Ursache nicht entschlagen, 
sondern im Namen ihrer Partheyen biß zu End 
des Rechtens handeln wollen“. An dem keiser- 
lichen Hofgericht, dem Reichshofrat, fungierten 
20—30 Anwälte, sog. Reichshofratsagenten, die 
der Präsident zu ernennen hatte. Wie an den 
Reichsgerichten, so wurde in der Folge an den 
einzelnen kaiserlichen Provinzialhofgerichten und 
an den Untergerichten eine bestimmte Zahl von 
Advokaten und Prokuratoren ein für allemal als 
Beamte angestellt, welche unter Kontrolle der 
Staatsgewalt standen. Im Lauf der Zeit flossen 
die Amter der Prokuratur und der Advokatur 
sachlich ineinander über, so daß zuletzt nulla inter 
advocatos et procuratores differentia be- 
stand. Leider waren die neuen Verhältnisse, 
wie sie namentlich durch die Abschaffung der 
Mündlichkeit und Offentlichkeit des gerichtlichen 
Verfahrens sowie das ganze System der Staats- 
verwaltung geschaffen wurden, der Hebung und 
freien Entwicklung des Anwaltsstandes nichts 
weniger als günstig. Dieser entbehrte infolge der 
Schriftlichkeit und Heimlichkeit des Prozesses ganz 
und gar des aus einem engen Zusammenhang mit 
dem Volke hervorgehenden volkstümlichen Cha- 
rakters; es fehlte dem Anwalt jede Gelegenheit, sich 
durch hervorragendes Talent und tüchtige Wissen- 
schaft öffentlich auszuzeichnen; seine ganze Tätig- 
keit beschränkte sich auf das Anfertigen von end- 
losen Schriftsätzen in der Schreibstube. Ferner 
führte der in dem ganzen Verfahren herrschende 
künstliche Formalismus und der langwierige, 
schleppende Gang desselben dazu, daß die An- 
wälte bei Führung der ihnen übertragenen Rechts- 
sachen sich häufig unwürdiger Schikanen und er- 
dichteter Einreden zur Verdunklung des wahren 
Sachverhalts und zur Schädigung des materiellen 
Rechts bedienten, die Prozesse zum Nachteil der 
Parteien durch mehrere Instanzen hindurch in un- 
gebührlicher Länge hinauszuziehen und dieselben 
nur als Mittel schnöden Gelderwerbs zur Befrie- 
digung maßloser Habgier zu mißbrauchen pflegten. 
Die flache und geistlose Behandlung des Rechts- 
stoffs und dessen mangelhafte theoretische Durch- 
und Fortbildung ließen ein höheres wissenschaft- 
liches Streben nicht aufkommen. Es fehlte den An- 
wälten jedes freie Selbstbewußtsein, jedes Gefühl 
der Unabhängigkeit und Standesehre; denn sie 
waren, jeder Organisation entbehrend, der streng- 
sten Disziplinargewalt der Gerichte, welche von 
derselben in rücksichtsloser und oft höchst verletzender 
Weise Gebrauch machten, schutzlos anheimgegeben. 
„Der Kampf der Fürsprecher und Richter hörte 
auf, die Fürsprecher wurden Sklaven der Richter; 
sie mußten schmeicheln, um nichts zu verderben, 
sie durften nicht widersprechen, um nicht unter- 
zugehen.“ Der Zutritt zu den höheren Staats- 
ämtern blieb ihnen verschlossen. Freie Konkurrenz 
war unmöglich; vielmehr herrschte das Prinzip 
staatlicher Konzession, um den starken Zudrang 
zu der Advokatur und die Vermehrung dieses als 
  
  
Advokatur. 
  
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notwendiges Übel betrachteten Standes möglichst 
zu beschränken. So verlor der Beruf der Advo- 
katen Würde und Ansehen völlig; er sank zu einem 
mißachteten konzessionierten Gewerbe von bloßen 
Schreibern herab, meist unfähigen, charakterlosen, 
habgierigen Menschen, welche dasselbe zu unlau- 
teren, gewinnsüchtigen Zwecken betrieben und aus- 
beuteten. Eine Ausnahmt bildeten allein die bei 
den obersten Reichsgerichten fungierenden Advo- 
katen, welche sich durch Ansehen und Wissenschaft 
in rühmlicher Weise auszeichneten. Dazu kam, 
daß das Volk seiner Erbitterung über die Mängel 
des Gerichtsverfahrens in erster Linie gegen die 
Advokaten Luft machte und gegen dieselben ver- 
diente und unverdiente Beschwerden und Vorwürfe 
erhob. Schon bald nach Einführung des römischen 
Rechts hörte man, und zwar selbst von hervor- 
ragenden Juristen, wie Zasius, laute Klagen, daß 
dasselbe den Advokaten die Handhabe biete, um 
das Recht zu verdrehen, und daß die Advokatur 
als gemeines Gewerbe zum Geldwucher betrieben 
werde. Durch die Advokaten seien die Gerichts- 
händel unzählig, die Prozesse überaus kostspielig 
geworden und fänden oft gar kein Ende mehr. 
„Die Advokaten vergiften die Gerichte, sie spotten 
der Richter, stören die Ruhe, suchen das Gemein- 
wesen zu verwirren und sind den Himmlischen und 
den Menschen verhaßt.“ Sie werden geradezu als 
Raubritter bezeichnet, als „Rechtsbieger, Beutel- 
schneider und Blutsauger“ u. dgl. mehr (vl. die 
Darstellung bei Janssen, Gesch., des deutschen 
Volkes I 16 18971 548 ff 561 ff). Auch in den 
folgenden Jahrhunderten wird die Verkommen- 
heit des Advokatenstandes vielfach bezeugt. So 
sagt Leyser (Meditationes ad Pandectas), daß 
die Advokaten alle Würde und jedes Ansehen ver- 
loren haben, weshalb auch, abgesehen von wenigen 
Ausnahmen, nur viles et ad alia negotia inepti 
homunculi advocationem ambiunt. Justus 
Möser (Patriotische Phantasien III 51) mißt dem 
Gesetzgeber die Schuld dieses Zustands bei, indem 
er den Advokaten bloß den Weg des Gewinstes über- 
lassen habe, der immer gefährlicher wird, je weiter 
er ohne Begleitung der Ehre fortgeht, und indem 
er dieselben beständig auf dem Fuß eines gericht- 
lichen Taglöhners oder Aktenkrämers halte. „Allent- 
halben“, sagt Wangemann (Advokatenstand 87) 
mit Recht, „wo die Justiz mit Formeln überladen 
ist und der Streitlust zahllose Instanzen und Rechts- 
mittel darbietet, da spricht sich am lautesten und 
jammervollsten die Gefährlichkeit der Advokaten 
aus, da sind sie am meisten als Blutegel verschrieen, 
welche am Wohlstand der Nation nagen, als Po- 
lypen, denen kein Brennen und Schneiden die Re- 
produktionskraft nehmen kann. Vieles ist begrün- 
det, vieles wird freilich übertrieben, und zwar von 
denen, welche ein Opfer dieser Formen und Ver- 
führungsmittel wurden, welche sich hinreißen ließen 
durch die Künste eines ränkevollen Advokaten.“ 
„Gerichtsraben, giftige Ottern, Streitköpfe, Worte- 
fänger, Zungendrescher, Rechtsverdreher, Gerichts- 
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