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gemessen an der sittlichen Pflicht des bürgerlichen
Gehorsams, doch nur sekundärer Art. Kein Staat
kann ohne die fundamentale Gliederung in Re-
gierende und Regierte bestehen und ohne die
Unterordnung der letzteren unter die ersteren. Aber
daraus folgt nicht, daß nicht abwechselnd die
Untertanen auch Obrigkeit sein könnten, und daß,
wer Obrigkeit ist, dies immer bleiben müsse und
niemals Untertan werden könne. Wenn der
Royalist der alten Zeit in seinem König den sicht-
baren Stellvertreter Gottes auf Erden zu erblicken
geneigt war, so kann ein gesteigertes religiöses
Empfinden auch einen Freistaat in einen höheren
Zusammenhang einordnen und dadurch den In-
stitutionen desselben einen geheiligten Charakter
verleihen. Dann erscheint Gott allein als der
Herr und Gebieter; in seinem Namen verwalten
die erwählten Vorsteher das Gemeinwesen, wenn
die Reihe sie trifft. Nur eine kurzsichtige Betrach-
tung denkt bei der Demokratie ausschließlich an
die Fälle, wo unter den Eingebungen eines revo-
lutionären Geistes ein Volk sich gegen die recht-
mäßige Obrigkeit erhebt und sich allein für sou-
verän erklärt; weit lehrreicher für das Wesen
dieser Staatsform sind die andern Fälle, wo, wie
in der Begründung von Kolonien, von Anfang
an der gemeinsame Zweck die gleichgestellten Bürger
miteinander verband. Wo die Monarchie zu Recht
besteht, ist es niemand gestattet, für die Verwirk-
lichung der demokratischen Staatsform tätig zu
sein; aber es ist töricht, da, wo es sich nur um die
politische Theorie handelt, in der Wertschätzung
derselben die Voreingenommenheit des Partei-
gängers oder auch des Höflings walten zu lassen.
Sieht man von der Frage des geschichtlichen
Rechts ab, so können für eine wissenschaftliche
Würdigung lediglich Erwägungen der Zweck-
mäßigkeit Platz greifen. Die Frage ist allein die,
ob und unter welchen Voraussetzungen sich die
Aufgaben des staatlichen Lebens in einer demo-
kratischen Staatsform in befriedigender Weise
lösen lassen.
2. Arten der Demokratie. Zur Beantwor-
tung dieser Frage ist zunächst erforderlich, zwischen
den beiden Arten der unmittelbaren und der
repräsentativen Demokratie zu unterscheiden.
Die Staaten des Altertums kannten nur die un-
mittelbare Demokratie. Der Gedanke der poli-
tischen Stellvertretung war ihnen vollkommen
fremd. Das Volk, d. h. die Gesamtheit der stimm-
berechtigten Bürger, gilt nicht nur als der oberste
Träger der Gewalt, sondern übt dieselbe auch tat-
sächlich aus. Als der konsequenteste Ausdruck der
antiken Demokratie läßt sich die Verfassung Athens
ansehen. Fast alle wichtigeren Staatsangelegen-
heiten wurden in der Volksversammlung behan-
delt, in welcher jeder ehrbare athenische Bürger
nach zurückgelegtem 20. Lebensjahr Sitz und
Stimme hatte. Von einer scharfen Scheidung
zwischen Gesetzgebung und Exekutive in unserem
Sinn war nicht die Rede. Für die erstere wurde
Demokratie.
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in jedem einzelnen Fall ein zahlreicher Ausschuß
gewählt, die sog. Nomotheten, auf deren Beschlüsse
die Stimmung der Volksversammlung zumeist
einen übermächtigen Einfluß ausübte; gerade die
eigentlichen Regierungsgeschäfte aber besorgte diese
selbst. „Sie selber hörte die Gesandten anderer
Staaten an, ernannte Gesandte, beriet und be-
stimmte die Instruktionen derselben. Sie beschloß
Krieg oder Frieden, erwählte die Feldherren, regelte
den Sold und sogar die Art der Kriegsführung.
Das Schicksal der eroberten Städte und Länder
wurde von ihr normiert. Sie verfügte über die
Aufnahme und Anerkennung neuer Götter, über
die religiösen Feste, über neue Priestertümer. Sie
erteilte Bürgerrechte und Privilegien. Über den
Zustand der Finanzen, der Einnahmen und Aus-
gaben der Republik, mußte ihr Rechenschaft ab-
gelegt werden. Von ihr wurden die Steuern auf-
erlegt, die Schirmgelder der Metöken bestimmt,
das Münzwesen geordnet, zu freiwilligen Bei-
trägen aufgefordert. Die Bauten der Tempel und
öffentlichen Gebäude, der Straßen, Mauern usw.,
sowie die wichtigen Ausgaben für den Schiffsbau
bedurften ihrer Genehmigung, und die wesentlichen
Aufträge dafür gab sie selber. Sie verwendete
die Staatsgelder auch zum Privatvergnügen der
einzelnen Bürger, indem sie diesen den Besuch der
Theater bezahlen ließ. Die regelmäßige Straf-
gerichtsbarkeit war der Volksversammlung zwar
entzogen, aber in außerordentlichen Fällen, ins-
besondere wo das Gesetz ein Verbrechen nicht vor-
gesehen hatte oder erschwerende Umstände außer-
gewöhnliche Maßregeln zu rechtfertigen schienen,
wurden auch Kriminalklagen vor derselben ver-
handelt und die Strafe von ihr bestimmt, oft auch
das Schuldig ausgesprochen“ (Bluntschli). Die
Voraussetzung für eine solche Verfassung bildet
ein räumlich eng begrenztes Gemeinwesen. Sie
war möglich in den Stadtstaaten des griechischen
Altertums, sie ist unmöglich in den ausgedehnten
Territorialstaaten der Neuzeit. Es mußte ferner
nicht nur durch die geringe Ausdehnung des Ge-
biets und die relativ kleine Zahl der Bürger mög-
lich sein, das herrschende Volk zur Versammlung
zu vereinigen, die Bürger mußten auch hinrei-
chende Muße zur Besorgung der Staatsgeschäfte
haben. Dies erforderte entweder eine große Ein-
fachheit und Gleichförmigkeit aller Verhältnisse,
der wirtschaftlichen wie der politischen, oder es
mußte, wie dies in allen Staaten des Altertums
der Fall war, die wirtschaftliche Arbeit von
Sklaven besorgt werden. — Daß nun eine solche
Berufung der Bürger zu unmittelbarer Beteili-
gung an den Staatsgeschäften Bildung und
Selbstgefühl in allen gleichmäßig fördern mußte,
daß sie geeignet war, den Patriotismus und die
zu Opfern bereite Hingabe an die gemeinsame
Sache zu erwecken und zu steigern, ist einleuchtend
und wird durch die Tatsachen der Geschichte be-
stätigt. Ganz ebenso aber drängen sich die Mängel
und Gefahren auf, welche mit dieser Einrichtung
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