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schreier, Blutegel, fressende Heuschrecken, nagende
Würmer, Krummacher, Rabulisten“, das sind die
Ehrentitel, welche noch im 18. Jahrh. den Advo-
katen zuteil wurden (s. Kirchhof, Von den Advo-
katen 30). Mehrfach wurde die Frage ventiliert,
ob überhaupt Advokaten im Staat zu dulden seien.
Über die Entwicklung der Advokatur und Prokura-
tur namentlich in Württemberg, Sachsen, Osterreich
und Preußen vgl. Weißler, Gesch. d. Rechtsanwalt-
schaft (Kap. 31/34). So nimmt es denn nicht
wunder, daß Friedrich II. von Preußen im Jahr
1780 auf den Gedanken kam, die Advokaten ganz
zu unterdrücken, indem an deren Stelle sog. Assi-
stenzräte eingeführt wurden, welche als Gehilfen
nicht der Partei, sondern dem Richter zur Seite
stehen, zugleich aber denselben kontrollieren sollten.
Freilich erwies sich dieser Versuch als undurchführ-
bar; schon nach wenigen Jahren traten die Justiz-
kommissarien als wirkliche Rechtsbeistände der Par-
teien wieder in Funktion (ogl. Weißler a. a. O.
ap. 35 ff).
VI. Im Deutschen Pund. Die Prozeß-
ordnungen der einzelnen deutschen Staaten in der
ersten Hälfte des 19. Jahrh. versuchten durch Re-
formen nach verschiedenen Richtungen hin den
Advokatenstand gründlich zu heben und wieder zu
Ansehen zu bringen. In manchen Staaten wurde
die Advokatur ganz oder teilweise freigegeben,
in manchen dagegen die Zahl der Advokaten be-
schränkt und denselben die Pflichten der Beamten
auferlegt. Die Zulassung der Advokaten er-
folgte entweder für alle Gerichte eines Staats
oder nur für diejenigen eines bestimmten Be-
zirks; auch unterschied man mehrfach zwischen
Unter= und Obergerichtsadvokaten. Bezüglich der
Vorbildung der Advokaten wurden höhere
Anforderungen gestellt, meist verlangte man für
sie die nämliche Vorbildung wie für die Richter.
Die Disziplinarverhältnisse hinsichtlich
der Advokaten wurden neu geordnet, und zwar
die betreffenden Befugnisse entweder den Gerich-
ten oder aber einem Ehrenrat oder einer Advo-
katenkammer übertragen. Zur Reglung des Ge-
bührenwesens erließ man Gebührenordnungen
nach verschiedenen Systemen, indem entweder die
einzelnen durch den Advokaten vorgenommenen
Handlungen honoriert oder ihm eine Bauschgebühr
bewilligt wurde, wobei vielfach die Verpflichtung
bestand, die Gebührenrechnungengerichtlichtaxieren
zu lassen. Auch ward in den meisten Staaten der
Anwaltszwang statuiert, wenigstens für die
Gerichte höherer Instanz in Zivilsachen und bei
den wichtigeren Kriminalsachen. Advokatur und
Prokuratur waren meist vereinigt (vgl. die aus-
führliche Zusammenstellung der betr. Rechtszu-
stände in den deutschen Staaten in Anlagen C—E
der Motive zum Entwurf der deutschen Rechts-
anwaltsordnung vom 1. Juli 1878; Weißler,
Gesch, der Rechtsanwaltschaft Kap. 46 ff; val.
Gneist18671] und Jacques (1868), Freie Advo-
katur; Brix, Organisation d. Advokatur [1869)).
Advokatur.
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Doch konnte man durch alle diese Reformversuche
nur unvollkommene Resultate erzielen, solange die
Offentlichkeit und Mündlichkeit des gerichtlichen
Verfahrens, diese wesentlichen Erfordernisse für die
Ausbreitung und das Ansehen des Anwaltsstands,
nicht zur gründlichen Durchführung gebracht waren
(ogl. Feuerbach, Betrachtungen über d. Offent-
lichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege).
VII. Im Ausland. Eine ganz entgegenge-
setzte Entwicklung nahm die Advokatur in Frank-
reich, England und Nordamerika. In die-
sen Ländern, wo das Verfahren immer öffentlich
und mündlich gewesen war, hatte der Advokaten-
stand von jeher große Unabhängigkeit bewahrt und
demzufolge stets in hohem Ansehen gestanden. In
Frankreich unterscheidet man zwischen avousés und
avocats. Ersteren, welche als staatliche Beamte
in bestimmter Zahl bei den einzelnen Gerichten an-
gestellt sind, liegt die gerichtliche Vertretung der
Partei obz letztere, welche zwar für bestimmte Ge-
richtssprengel, aber meist ohne Beschränkung der
Zahl rezipiert werden, haben die mündliche Rechts-
ausführung für die Partei zu übernehmen. Die
in das tableau des avocats eingetragenen, den
ordre des avocats bildenden Advokaten unter-
stehen in disziplinarischer Beziehung dem von
ihnen aus ihrer Mitte gewählten conseil de disci-
Pline, die avoués der chambre des avoués (ogl.
Gerichtshalle, Juni 1883, Nr 45 u. 49; über
das Geschichtliche: Brunner in Zeitschrift für
vergleichende Rechtswissenschaft I, 1878). In den
Rheinlanden, in Hannover und Braunschweig
wurde das System der Advokatsanwalt-
schaft eingeführt (Weißler a. a. O. Kap. 43 v.
— In England besteht ein ähnlicher Unterschied
zwischen den Solicitors und attorneys
einerseits, welche als staatlich angestellte Anwälte
bei den courts of equity und of common law
fungieren, und den barristers anderseits,
welche als chancery) barristers oder common
law barristers vor den betreffenden Gerichtshöfen
plädieren. Von jeher bestand für die englischen
Advokaten eine zunftmäßige Organisation in den
sog. inns of court. — Die counsellors
oder lawyers in Nordamerika vereinigen die
Funktionen des Anwalts und Advokaten und ent-
behren der korporativen Organisation.
VIII. Im Deutschen Reich. Nachdem sich
namentlich der 4. und 7. Deutsche Juristentag
(1863 u. 1868) in wiederholten Beschlüssen für
die Vereinigung von Anwaltschaft und Advo-
katur, ferner für die vollständige Freigabe der
Advokatur wie jedes andern Gewerbes, ohne
Unterscheidung zwischen den Gerichten und ohne
Unterschied der Rechtssachen, für jeden geprüften
Rechtsverständigen nach Zurücklegung der gesetz-
lich bestimmten Vorbereitungspraxis, endlich für
die Uberwachung der Advokaten durch die Advo-
katenkammer ausgesprochen hatte, erfolgte die
reichsgesetzliche Reglung der Verhältnisse der deut-
schen Rechtsanwaltschaft durch die Rechts-