1235
den gemeinsamen Feind jenseits des Rheins zu
führen, und als die militärische Entscheidung ge-
fallen war, das größte und schönste Werk seiner
Staatskunst zu vollenden. Für das junge Deutsche
Reich war es dann von wesentlichem Vorteil, daß
ihm noch 20 Jahre lang der überragende Staats-
mann, dessen zielbewußte Politik im Ausland ge-
achtet und gefürchtet war, als Kanzler erhalten
blieb und daß dieser nicht mehr auf kriegerische
Lorbeeren, sondern auf friedliche Befestigung der
Reichsgrundlage bedacht war. Sein schönster Er-
folg in der äußern Politik nach 1870/71 ist das
Bündnis mit Osterreich. — So genial und ruhm-
voll aber Bismarcks äußere Politik war, in der
Leitung der innerpolitischen Angelegenheiten hat
er manchen Fehlgriff getan. Hier ist ihm die Gabe
richtiger Beurteilung der Sachlage, der ungemein
scharfe Blick nicht immer eigen gewesen. Als völlig
unparlamentarische und herrschgewaltige Natur
mit eisernem Willen und von ungewöhnlicher Rück-
sichtslosigkeit, befangen in den altpreußischen jun-
kerlichen Anschauungen, wollte er, wie er na
außen mit Blut und Eisen sein Werk geschaffen,
auch im Innern ihm unsympathische und unver-
ständliche Erscheinungen mit äußerster Gewalt
unterdrücken. Aus anerzogenem Vorurteil gegen
alles katholische Wesen und weil er in der katho-
lischen Kirche eine Gefahr für das neue „prote-
stantische Reich“ erblickte, wurde er der Haupt-
träger des Kulturkampfs, des Versuches, die
katholische Kirche, zunächst in Preußen, der sog.
Staatsraison unbedingt dienstbar zu machen. Aus
diesem schweren Streit ging er nicht als Sieger
hervor. Aber anderseits muß anerkannt werden,
daß er wieder einzulenken suchte und wenigstens
die schwersten Härten beseitigte, als er die Erfolg-
losigkeit seiner Politik und deren schwere Schäden
für die innern Zustände des Reichs erkannte.
Vielleicht wäre zu hoffen gewesen, daß er bei län-
gerem Verbleib im Amte einer friedlichen Gestal-
tung des Verhältnisses von Staat und Kirche noch
weitere Dienste geleistet haben würde; in diesem
Sinn wird Papst Leo XIII. das Wort zuge-
schrieben: ihm fehle Bismarck. Seine Auffassung
der durch den Umschwung im Wirtschaftsleben
veränderten sozialen Lage der Massen zeigte, daß
ihm die richtige Beurteilung für diese neue Er-
scheinung abging. Seine Gegnerschaft gegen die
eine einschneidende Arbeiterschutzgesetzgebung an-
strebende Sozialreform und seine Gewaltpolitik
gegenüber der Sozialdemokratie zeigen ihn wieder
als altpreußischen Konservativen, aber nicht als
modernen Staatsmann. Daß er nach seiner Ent-
lassung von seinem Ruhesitz aus als „Nörgler“
an dem neuen politischen System bisweilen zu
weit ging, ist wohl menschlich erklärlich, aber nicht
immer entschuldbar.
Bismarcks Nachfolger als Reichskanzler wurde
der General v. Caprivi (geb. 1831, gest. 1899).
Bedeutung erlangte die „Ara Caprivi“, abgesehen
von dem durch die persönliche Initiative des
Deutsches Reich.
1236
Kaisers sehr geförderten Ausbau der Arbeiter-
schutzgesetzgebung, auf zollpolitischem Gebiet. Die
1879 eingeleitete Schutzzollpolitik hatte in den
Jahren 1885 und 1887 noch eine Steigerung
erfahren. Auf Grund von Vertragstarifen mit
Meistbegünstigungsklausel schloß nun Caprivi
eine Anzahl von Handelsverträgen mit andern
Staaten ab, die zwar für den industriellen Auf-
chwung Deutschlands die segensreichsten Folgen
hatten, der deutschen Landwirtschaft aber be-
rechtigten Anlaß zu bittern Klagen boten. Die
heftigsten Angriffe richtete der 1893 gegründete
„Bund der Landwirte“ gegen den „Mann ohne
Ar und Halm“. Einen Konflikt zwischen Re-
gierung und Reichstag brachte wiederum eine
Militärvorlage. Dieselbe sah zwar die vielseitig
gewünschte zweijährige Dienstzeit für die Fuß-
truppen vor, forderte aber gleichzeitig eine wesent-
liche Erhöhung der Friedenspräsenzstärke und da-
mit eine erhebliche finanzielle Mehrbelastung.
Der Widerspruch, der zuerst fast allgemein war,
—
ch wurde nur vom Zentrum und der linken Seite des
Hauses aufrechterhalten. Als der Reichstag auch
einen Kompromißantrag des Freiherrn v. Huene
und einiger schlesischer Zentrumsmitglieder (Strei-
chung von 13 000 Manng ablehnte, wurde er auf-
gelöst (6. Mai 1893). Der neue Reichstag nahm
gegen die Stimmen des Zentrums die Vorlage in
der Hueneschen Fassung an, ohne vorläufig der
Deckungsfrage näherzutreten. Die Regierung hatte
wie schon im Jahr 1887 bei der Septennats-
frage durch die päpstliche Kurie auf das Zentrum
zugunsten der Heeresvorlage einzuwirken gesucht.
Differenzen mit dem sehr einflußreichen preußischen
Ministerpräsidenten Grafen Eulenburg über die
von der Regierung eingebrachte Umsturzvorlage
bewogen Caprivi zum Rücktritt (26. Okt. 1894).
Die Kanzlerperiode des Fürsten Hohenlohe-
Schillingsfürst (geb. 1819, gest. 1901), war
reich an Erfolgen in legislatorischer Hinsicht, doch
lag wie schon unter Caprivi die Initiative nicht
beim Reichskanzler. In einzelnen Fällen, wie
z. B. bei der Reform der Militärstrafprozeßord-
nung und der Aufhebung des Koalitionsverbots
für politische Vereine, wußte er sich jedoch gegenüber
dem ursprünglichen Widerstand des Kaisers durch-
zusetzen. Die Führung im Reichstag übernahm
seit 1895 das Zentrum. Mit der Session 1895/96
beginnt eine große Periode schöpferischer Arbeit
des Reichstags. Es sei nur hingewiesen auf die
Annahme des Bürgerlichen Gesetzbuchs, den wei-
teren Ausbau und die Umgestaltung der sozialen
Gesetzgebung, die Armeereform und Heeresver-
stärkung, auf die Genehmigung der Mittel zu einer
den wachsenden internationalen Aufgaben des
Reichs entsprechenden Flotte (1897/98, 1900,
1906), auf die Schaffung eines neuen der hei-
mischen Arbeit und namentlich dem deutschen Land-
wirt größeren Schutz gewährenden Zolltarifs
(Dez. 1902), auf Grund dessen dann neue Handels-
verträge abgeschlossen wurden, die 1906 in Kraft