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traten. Namentlich der Entwurf zum Zolltarif
hatte schwere Kämpfe innerhalb des Reichstags
und im deutschen Parteileben hervorgerufen. Durch
eine mit allen Mitteln betriebene Obstruktion
suchte die Sozialdemokratie und die Freisinnige
Vereinigung die Vorlage zum Scheitern zu bringen.
Hohenlohe hatte am 16. Okt. 1900 seine Ent-
lassung genommen. Sein Nachfolger wurde der
Staatssekretär des Auswärtigen Graf Bülow,
seit 1905 Fürst. Die innere Politik unter dem
neuen Reichskanzler wurde in den ersten Jahren vor-
wiegend von wirtschaftlichen Fragen beherrscht. Ein
Umschwung iin der innern Politik trat Ende 1906
ein. Fürst Bülow fühlte sich infolge von Intrigen
der Hofkamarilla und des Verdachts allzu großer
Zentrumsfreundlichkeit nicht mehr fest im Sattel.
Die Regierung hatte es sehr übel vermerkt, daß
das Zentrum im Sommer 1906 die Umwandlung
des Kolonialamts in ein selbständiges Staats-
sekretariat ablehnte, und vor allem, daß es Anfang
Dezember die kolonialen Mißstände einer scharfen
Kritik unterzog. Als nun das Zentrum an einem
Nachtragskredit von 29 Mill. M für den Krieg
in Südwestafrika 9 Mill. strich, wurde der Reichs-
tag schon bei der zweiten Lesung der Vorlage auf-
gelöst (13. Dez. 1906). Trotzdem die Wahlparole
„gegen das Zentrum“ lautete und der furor pro-
testanticus entfesselt wurde, trotzdem man gegen
das Zentrum den verleumderischen Vorwurf des
Mangels an nationalem Bewußtsein erhob, zog es
noch stärker als vorher in den neuen Reichstag ein,
während die Sozialdemokratie die Hälfte ihrer
Mandate verlor, obwohl ihre Stimmenzahl gegen-
über der letzten Wahl sich noch vermehrte. Der neue
Reichstag steht im Zeichen des „Blocks“, der „kon-
servativ-liberalen Paarung“. Positive Ergebnisse
hat diese Politik bis heute nur deswegen gezeitigt,
weil die linksliberalen Parteien, um ihren Platz
an der Regierungssonne nicht zu verlieren, prin-
zipielle Punkte ihres Programms preisgaben. Am
deutlichsten trat dies bei der Schaffung des Reichs-
vereinsgesetzes zutage.
In der äußern Politik wurde auch nach
dem Regierungsantritt Kaiser Wilhelms II. die
Friedenspolitik mit Nachdruck aufrechterhalten und
dadurch manche Befürchtungen zerstreut. Der
Dreibund wurde neu befestigt, das Verhältnis zu
Rußland war jedoch zeitweilig nicht frei von Span-
nungen. Der 1887 geschlossene deutsch-russische
Rückversicherungsvertrag wurde 1890 nicht er-
neuert, es kam zum engeren Anschluß zwischen
Frankreich und Rußland, der französisch-russische
Zweibund kam jedoch erst 1897 zustande. In
den ersten Jahrzehnten, namentlich unter Bis-
marcks Leitung, war Deutschland die führende
Rolle im europäischen Konzert zugefallen. Sein
Einfluß trat zurück, als Ende der 1890er Jahre
infolge des spanisch -amerikanischen Kriegs aus
dem europäischen ein Weltkonzert wurde. In der
gemeinsamen Operation der Mächte gegen China,
wo die gegen das christliche Missionswesen und
Deutsches Reich.
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alles Fremdentum gerichtete Boxerbewegung zu
einer Bedrohung der europäischen Gesandtschaften
und zur Ermordung des deutschen Gesandten
Freiherrn v. Ketteler führte, hatte zwar Deutsch-
land noch den Oberstkommandierenden („Welt-
marschall“ Graf Waldersee) stellen dürfen. Seit-
dem aber England dank der unerwartet regen
diplomatischen Tätigkeit Eduards VII. aus seiner
splendid isolation heryortrat und Allianzen,
Freundschaften, ententes cordiales und wie die
verschiedenen Abkommen in diplomatischer Nuan-
cierung heißen, abschloß, seitdem wird viel von
einer Isolierung, einer „Einkreisung“ Deutsch-
lands gesprochen. Die Trübung der deutsch-eng-
lischen Beziehungen reicht bis in die 1890er Jahre
zurück. Das Jameson-Telegramm (1896), die
deutsche Burenbegeisterung im letzten Transvaal=
krieg, nicht zuletzt aber die wachsende Rivalität
Deutschlands auf wirtschaftlichem Gebiet und die
ständig steigende Machtentfaltung der deutschen
Kriegsflotte hatten bei den Engländern arges Un-
behagen und schwere Beklemmungen hervorgerufen.
Eine gewissenlose Jingopresse in beiden Ländern
und vielleicht auch diplomatische Fehlgriffe ver-
größerten die bestehenden Gegensätze. Ein ganz
eigenartiger, bis heute wohl beispielloser Vorgang
war es nun, daß aus einsichtsvollen Volkskreisen
heraus ohne Vermittlung und Hilfe der Diplo-
matie ein Sich-besser-kennen -lernen, ein Sich-
näher-treten erstrebt wurde und Besuche zwischen
den Vertretern einzelner auf die Stimmung der
großen Masse einflußreicher Berufe ausgetauscht
wurden und infolgedessen seit etwa 1906 die Be-
ziehungen zwischen den beiden stammverwandten
Nordseestaaten wenn auch nicht herzlich, so doch
wenigstens wieder korrekter geworden sind.
Die Gefahr einer kriegerischen Verwicklung mit
Frankreich brachte die Delcassesche Politik und die
Marokkofrage. Das Eintreten für die Politik der
offenen Tür in dem afrrikanischen Küstenstaat
seitens der Reichsregierung wußte das deutsche
Volk wohl zu würdigen, weniger Verständnis und
Zustimmung fand in dieser schwierigen politischen
Lage die starke persönliche Engagierung des Trä-
gers der obersten Reichsgewalt. Auf der Algeciras-
Konferenz, die vorwiegend auf Betreiben Deutsch-
lands zustande kam, stand in treuer Freundschaft
nur Osterreich-Ungarn auf deutscher Seite, der
Dritte im Dreibund erlaubte sich, wie schon öfters,
so auch hier eine Extratour.
Über die kriegerischen Verwicklungen in den
deutschen Schutzgebieten vgl. den Abschnitt VI. Die
deutschen Schutzgebiete (Sp. 1267 ff). 4
II. Berfassung des Deutschen BReichs.
Das Reich ist in der nämlichen vertragsmäßigen
Weise zustande gekommen wie der Norddeutsche
Bund. Der Rechtsgrund der verbindlichen Kraft
der Reichsverfassung ist der von den Mitgliedern
des Reichs abgeschlossene Staatsvertrag. Das
Reich ist unbedingter Rechtsnachfolger des Bundes
in allen seinen Beziehungen; es hat alle von dem