Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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den, drei Mitgliedern des Reichsgerichts und drei 
Mitgliedern der Anwaltskammer bei dem Reichs- 
gericht. Noch ist hervorzuheben, daß bezüglich 
der Rechtsanwaltschaft beim Reichsgericht in- 
folge der exemten Stellung desselben in der Gliede- 
rung der Gerichte einige besondere Bestimmungen 
gelten: die Zulassung bzw. deren Zurücknahme 
erfolgt durch den Präsidenten des Reichsgerichts. 
Diese Zulassung ist mit derjenigen bei einem 
andern Gericht unvereinbar. Eine Übertragung 
der dem Prozeßbevollmächtigten zustehenden Ver- 
tretung auf einen beim Reichsgericht nicht zugelas- 
senen Rechtsanwalt ist unzulässig. Die Anwalts- 
kammer beim Reichsgericht wird durch die bei 
demselben zugelassenen Rechtsanwälte gebildet. 
IX. Rechte und TPslichten. Dem bereits er- 
wähnten allgemeinen Recht, als Verteidiger, Bei- 
stand und Vertreter bzw. Substitut zu fungieren, 
entspricht zunächst die allgemeine Verpflichtung 
des Rechtsanwalts, seine Berufstätigkeit gewissen- 
haft auszuüben und durch sein Verhalten in Aus- 
übung des Berufs sowie außerhalb desselben sich 
der Achtung würdig zu zeigen, die sein Beruf er- 
sordert. Der Rechtsanwalt muß ferner, wenn er 
sich über eine Woche hinaus von seinem Wohnsitz 
entfernen will, für seine Stellvertretung sorgen 
und dem Gericht hiervon Anzeige machen. Er ist 
auch verpflichtet, den im Vorbereitungsdienst bei 
ihm beschäftigten Rechtskundigen Anleitung und 
Gelegenheit zu praktischen Arbeiten zu geben. 
Die besondern Pflichten des Rechtsanwalts be- 
ziehen sich auf dessen Verhältnis zu den 
Klienten. Die rechtliche Natur desselben wurde 
im gemeinen Recht verschieden aufgefaßt; man 
charakterisierte es als Mandat (worauf die Pro- 
kuratur beruht) oder als Dienstmiete oder als In- 
nominatrealkontrakt. Die herrschende Ansicht ging 
dahin, daß überhaupt kein Vertragsverhältnis vor- 
liege, sondern daß der Advokat seine Berufstätig- 
keit beneficii loco ausübe. Die deutsche Rechts- 
anwaltsordnung dagegen hat sich für die Theorie 
des Auftragsverhältnisses entschieden. Der Pro- 
zeßbevollmächtigte hat zu den Gerichtsakten eine 
schriftliche Vollmacht abzugeben, die, wenn sie eine 
Privaturkunde ist, auf Verlangen des Gegners 
amtlich beglaubigt werden muß. Dieselbe ermäch- 
tigt zu allen den Rechtsstreit (einschließlich Wider- 
klage, Wiederaufnahme des Verfahrens, Zwangs- 
vollstreckung) betreffenden Prozeßhandlungen, zur 
Bestellung eines Vertreters sowie eines Bevoll- 
mächtigten für die höheren Instanzen, zur Besei- 
tigung des Rechtsstreits durch Vergleich, Verzicht, 
Anerkennung und zur Empfangnahme der vom 
Gegner zu erstattenden Kosten. (Im einzelnen 
s. Zivilprozeßordnung §§ 80 ff.) Der Mangel der 
Vollmacht kann von dem Gegner in jeder Lage des 
Rechtsstreits gerügt werden, ist jedoch vom Gericht 
von Amts wegen nur im sog. Parteiprozeß zu be- 
rücksichtigen. Handelt jemand für eine Partei als 
Geschäftsführer ohne Auftrag oder als Bevoll- 
mächtigter ohne Beibringung einer Vollmacht, so 
Advokatur. 
  
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kann er zur Prozeßführung einstweilen zugelassen 
werden, das Endurteil darf jedoch erst ergehen, 
nachdem die für die Beibringung der Genehmigung 
zu bestimmende Frist abgelaufen ist. — Nach 
römischem Recht durfte der Rechtsanwalt an und 
für sich ohne genügenden Grund die Übernahme 
einer ihm von einer Partei übertragenen oder vom 
Gericht (weil die Partei einen Anwalt nicht finden 
konnte) zugewiesenen Sache oder die Fortführung 
einer übernommenen Sache nicht ablehnen, wo- 
gegen er zur Ablehnung einer ungerechten Sache 
verpflichtet war. Ebenso verhielt es sich nach älterem 
deutschem Recht. Nach der deutschen Rechtsanwalts- 
ordnung dagegen ist der Rechtsanwalt, dessen Be- 
rufstätigkeit von einer Partei in Anspruch ge- 
nommen wird, nicht verpflichtet, einen Antrag an- 
zunehmen, hat jedoch eine Ablehnung bei Meidung 
des Schadenersatzes ohne Verzug zuerklären. Ander- 
seits muß er seine Berufstätigkeit versagen, wenn 
sie für eine pflichtwidrige Handlung in Anspruch 
genommen wird, wenn sie von ihm in derselben 
Rechtssache bereits einer andern Partei in entgegen- 
gesetztem Interesse gewährt ist, oder wenn er sie in 
einer streitigen Angelegenheit gewähren soll, an 
deren Entscheidung er als Richter teilgenommen 
hat. In bestimmten Fällen, jedoch in der Regel 
nur im Anwaltsprozeß, wird einer Partei auf An- 
trag ein Rechtsanwalt zur Wahrnehmung ihrer 
Rechte vom Prozeßgericht beigeordnet, namentlich 
wenn die Partei das Armenrecht bewilligt er- 
halten hat oder einen zu ihrer Vertretung ge- 
neigten Anwalt nicht findet und die Rechtsver- 
folgung oder Rechtsverteidigung nicht mutwillig 
oder aussichtslos erscheint. Für die Verpflich- 
tung des Rechtsanwalts, in Strafsachen die Ver- 
teidigung zu führen, sind die Bestimmungen der 
Strafprozeßordnung maßgebend, wonach in den 
Fällen der notwendigen Verteidigung dem An- 
geschuldigten, wenn er einen Verteidiger noch nicht 
gewählt hat, von Amts wegen bzw. auf desfallsigen 
Antrag vom Gericht ein Verteidiger bestellt werden 
muß, in andern Fällen aber ein solcher bestellt 
werden kann. Der Anwalt ist verpflichtet, bei 
Führung der ihm übertragenen Sache die Treue 
gegen seine Partei zu wahren, namentlich strengste 
Verschwiegenheit zu beobachten und Hand- 
akten zu führen, ferner jede Schikane gegenüber 
der andern Partei zu vermeiden, sowie gegen das 
Gericht die schuldige Ehrerbietung nicht außer 
acht zu lassen. Über die Berechtigung der Rechts- 
anwälte zur Zeugnisverweigerung in Ansehung 
desjenigen, was ihnen bei Ausübung ihres Berufs 
anvertraut ist, vgl. Strafprozeßordnung § 52, 
Zivilprozeßordnung § 383. Wenn ein Anwalt 
in der nämlichen Rechtssache beiden Parteien durch 
Rat oder Beistand pflichtwidrig dient oder gar im 
Einverständnis mit der Gegenpartei zum Nachteil 
seiner eigenen Partei handelt (Prävarikation: 
qui diversam partem adiuvat prodita causa 
sua), so wird ein solches Verhalten nach römischem 
wie nach älterem und heutigem deutschem Recht
	        
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