Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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nie eine Regierung ungestraft solche Volksüber- 
zeugungen leicht genommen?“ — Wie sehr die 
religiöse Sozialanschauung an die Stelle der ratio- 
nalistischen getreten, zeigten 1838 die vielerwähn- 
ten Artikel über „die Klassiker und die Roman- 
tiker", worin Donoso Cortés in einer Sprache, die 
selbst seinen Freunden und Bewunderern neu er- 
schien, den Einfluß des Christentums auf Wissen- 
schaft und Kunst als das tatsächliche Ergebnis 
seiner vorbereitenden Einwirkung auf Idee und 
Sitte nachwies. Freilich war auch diese geläuterte 
Vorliebe für ästhetisches Christentum noch kein 
Glaubensakt; allein sie leuchtete doch als ein 
neues, helleres und reineres Licht auf den ferneren 
Lebensweg. 
Im Jahr 1838 sandte ihn die Provinz Cädiz 
ins Parlament. Sein Ideal war, wie er in 
den „Briefen über Frankreich“ (1842) ausführt, 
O 'Connell, „der irische Zyklop“, „dem kein Kopf 
in den drei vereinigten Königreichen bis an die 
Knie reicht". Donoso Cortés nahm seinen Platz 
unter den Moderados, d. h. den konstitutionellen 
Verteidigern des liberalen Königtums, welche sich 
die Lösung der Aufgabe zutrauten, zwischen der 
sog. Apostolischen Partei der Karlisten, den 
Anhängern des absoluten Königtums, des re. 
neto, und den Exaltados, der radikalen Demo- 
kratie Mendizäbals, jenes Gleichgewicht von 
Autorität und Freiheit herzustellen, ohne welches 
Spanien die willenlose Beute der Absolutisten 
oder der Demagogen werden müßte. Einmal 
tatsächlich mitten in die Atmosphäre dieser glühen- 
den Parteileidenschaften gestellt, erkannte Donosos 
Scharfblick sofort, daß die Lösung dieser Aufgabe 
weder im Volksgeist noch in den regierenden 
Klassen ohne die höhere, führende Macht der 
Kirche je gelingen werde. Wie ein Blitz traf 
ihn in den erregten Debatten die bitterste Ent- 
täuschung seines jungen Lebens, daß nicht bloß 
auf der Straße, sondern auch unter den Erwählten 
des Volks die Revolution spreche, kämpfe, dekre- 
tiere, herrsche. Im Jahr 1839 erschienen zahl- 
reiche Artikel im Correo nacional und in der 
Revista de Madrid, worin Donoso Cortés' rast- 
los arbeitender Geist sich von dieser Erfahrung 
Rechenschaft zu geben suchte. Der Schluß war 
der formelle Bruch mit dem Rationalismus und 
die Forderung der Wiedereinsetzung der Kirche in 
alle ihre Rechte und Freiheiten zur Rettung 
Spaniens. „Die Kirche ist im Mittelalter der 
wahrhafte und alleinige Befreier Spaniens ge- 
wesen. Sie hat in den Cortes im Bund mit 
König und Volk gestritten, um die Gewalt den 
Händen einer von ihren Triumphen trunkenen 
Aristokratie zu entreißen. Die spanische Mon- 
archie mit ihrem zwiefach demokratischen und 
religiösen Charakter ist ihrer Hände Werk; sie hat 
selbst die absolute Königsgewalt in den Dienst 
der Volksinteressen gestellt. Sie war der souveräne 
Mittler zwischen den christlichen Nationen, bis der 
unglückliche westfälische Vertrag an Stelle der 
Donoso Cortés. 
  
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erhabenen Mittlerschaft der Kirche das unheilvolle 
System des europäischen Gleichgewichts setzte, 
welches die Revolution vorbereitet hat. In der 
Tat, von dem Tag an, wo die Demokratie nicht 
mehr von der Kirche geleitet wurde, ist sie die 
zügellose, weil glaubenslose Gewalt geworden, 
nun die Geißel und der Fluch der Welt.“ — 
„Die Philosophie“, heißt es an anderer Stelle, 
„hat sich von Gott getrennt und selbst zum Gott 
gemacht; und wie Gott den Menschen nach seinem 
Gottesbild geschaffen, so lebte die Philosophie 
von dem Traum, eine neue Gesellschaft nach 
ihrem Gleichnis zu schaffen. Auf den Tafeln 
ihres Gesetzes waren die „Menschenrechte“ ein- 
gegraben, und die französische Revolution schrieb 
mit Blut den Kommentar. Was man als das 
providentielle Ziel der Emanzipation der mensch- 
lichen Vernunft ansah, wurde der Gipfel ihrer 
Verirrungen.“ 
Was diese entschlossene Abwendung von den 
bisherigen Anschauungen vollendete, waren die 
persönlichen Erlebnisse, zunächst im Parlament. 
Seinen Protest gegen die Konfiskation der Kirchen- 
güter und die Proskription der religiösen Orden 
beantworteten die Radikalen mit Ausführungs- 
dekreten, die das ganze Land mit den empörendsten 
Schauspielen der Verwüstungen, Emeuten, Geld- 
und Blutstrafen erfüllten. Als er nun selbst an- 
sehen mußte, wie Espartero (1840) die Königin 
Maria Christina zur Abdankung und Selbst- 
verbannung zwang, da war für ihn an dem Be- 
weis, daß der Liberalismus zur Anarchie führe 
und auch vor der Diktatur zur vollendeten Knech- 
tung des Landes nicht zurückschrecke, nichts mehr 
nachzuholen. Als Kabinettssekretär folgte Donoso 
Cortés der Königin nach Paris (1840/43). 
In Paris erwartete ihn, den dem Glauben 
Wiedergewonnenen, inmitten der rastlosen poli- 
tischen Arbeit und der diplomatischen Tätigkeit 
gegen Espartero, wie er bekannte, „die Barm- 
herzigkeit Gottes“, mit der fortan für sein innerstes 
Denken und Trachten entscheidenden Gnade des 
neuen Lebens aus und in dem Glauben. Die 
Wendung fällt in die Jahre 1841 und 1842. 
Wenn man die zerstreuten und zum Teil dunkeln 
Andeutungen genau prüft und vergleicht, so waren 
die die Bekehrung vorbereitenden Tatsachen zu- 
nächst der Umgang mit hervorragenden Katho- 
liken, vor allem mit dem Übersetzer des Balmes, 
Albéric de Blanche, Marquis de Raffin, dann das 
lebendige, mahnende Beispiel seines Bruders 
Pedro, von dem Donoso Cortés später sagte: 
„Ich liebte ihn sehr und vielleicht mehr, als die 
Liebe zu einem Menschengeschöpf gestattet ist“; es 
war ferner der jetzt erst sich ihm enthüllende Ab- 
stand von bloß natürlicher und übernatürlicher 
oder christlicher Tugend; es war endlich der 
innerste Zug seines Herzens, von dem er schreibt: 
„Zwei Dinge haben mich gerettet: der nie in mir 
ruhende Sinn für moralische Schönheit und eine 
Zärtlichkeit des Herzens, die an Schwäche grenzt.
	        
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