Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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als eben die Nätur der übernatürlichen Dinge in 
ihrer unwandelbaren Realität und Festigkeit nie 
dem Wechsel der wesentlich wandelbaren irdischen 
Dinge sich so anpaßt, um mit mathematischer 
Abstraktion das Resultat göttlicher Welt- 
lenkung und geschöpflicher Freitätigkeit zu be- 
stimmen — entging bisweilen seinem Idealismus. 
Auch die kontingenten Dinge verlangen neben den 
absoluten ihr Recht. Die Beweglichkeit der Men- 
schennatur, die unergründliche Inkonsequenz der 
gefallenen Natur, die individuelle Physiognomie, 
die Aufeinanderfolge, die ursächliche Verkettung 
der einzelnen geschichtlichen Tatsachen, Rassen- 
und Volksbildung in ihrer charakteristischen Eigen- 
art, geistige Strebungen und Strömungen, wirt- 
schaftliche Komplikationen, politische Gestaltungen, 
alles das sind in ihrer Art Geheimnisse in ihren 
tausendfachen, tief verschlungenen, kaum entwirr- 
baren, aber darum nicht weniger realen Einwir- 
kungen aufeinander, deren tiefere Erforschung 
jedem Versuch mathematischer Logik und Ar- 
gumentation sich schlechthin widersetzt, deren 
Nichtbeachtung aber leicht zu einem Irrtum des 
Urteilens, zu einem Fehler des Verhaltens, ja zu 
einer Methode des Denkens führen kann, die oft 
in unversöhnlichen Despotismus ausartet, mensch- 
liche Freiheit mißachtet und lähmt und dadurch 
der göttlichen Einwirkung entfremdet. 
Nicht auf Donoso Cortés möchten wir die letzten 
Worte angewandt sehen. Seine Lebensaufgabe 
war die Verteidigung der Gesellschaft gegen die 
tödlichen Angriffe des Sozialismus. Weder aus 
seinem persönlichen Verhalten noch aus seinem 
amtlichen, in lebenslangem Dienst gegen eine 
auf die modernen Ideen sich stützende Regierung 
und deren Vertretung auf den erhabensten und 
verantwortungsschwersten Posten, weder aus seinen 
Reden noch aus seinen Schriften wird man etwas 
von jener „pessimistischen“ Feindseligkeit gegen 
die moderne Regierungsweise an sich herausfinden, 
welche dieselbe „als die Negation der Wahrheit 
und der Gerechtigkeit“ ansieht. Nur wenige Daten 
gegen die entgegengesetzte Behauptung. Noch am 
12. Nov. 1852 schrieb er: „Man darf eine Ord- 
nung der Dinge, der man sich fügt, um unerträg- 
liche Dinge zu verhindern, nicht mit einer Ord- 
nung der Dinge verwechseln, zu der man halten 
möchte mit allen Banden der Liebe. Wer der ersten 
gibt, was ausschließlich nur der zweiten gebührt, 
hat weder das Bewußtsein der persönlichen Würde 
noch selbst das der distributiven Gerechtigkeit.“ 
Den Quietisten des modernen Absolutismus hielt 
er, der Freund der angelsächsischen Rasse und ihrer 
konstitutionellen Monarchie, der Bewunderer der 
ständischen Freiheiten der mittleren Zeiten, immer 
wieder die Pflicht des Kampfes um des katholischen 
Namens willen vor. Seine freie, stolze, unab- 
hängige Denkungsart hatte keine Ahnung von 
irgend welchem Servilismus im Namen des reli- 
giösen Prinzips. „Ich glaube an meine Ideen“, 
sagte er kurz vor seinem Tod, „aber meine Ideen 
Donoso Cortes. 
  
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können erst nach der Sündflut triumphieren, die 
kommen wird, die aber noch nicht gekommen ist. 
Ich weiß, daß die Propaganda der Demagogen 
nicht ihre Zeit verloren hat, und ich weiß, daß, 
wenn die Demagogen kommen werden, nur meine 
Ideen Kraft haben werden, ihnen zu widerstehen; 
alle andern werden von den alles verschlingenden 
Fluten begraben werden.“ 
Und der Mann solchen Selbstbewußtseins, der 
lebenslange Kämpfer für seine Ideen, hatte sich 
für seine Polemik gegen deren Gegner die Regeln 
aufgestellt: „Ich bin entschlossen, meine Prinzipien 
jedesmal zu verteidigen, wenn ich es gelegen halte, 
weil diese Prinzipien weder eine Erfindung von 
mir noch mein Eigentum sind. In gleicher Weise 
bin ich entschlossen, meine Person verteidigungslos 
den Fluten des Schimpfes und der Beleidigung 
zu überlassen. Ich werde nie einen Eigennamen 
aussprechen, um ihn der Diskussion zu unterziehen, 
indem ich der Überzeugung lebe, daß dies nicht 
geschehen kann, ohne gegen die Achtung zu ver- 
stoßen, die der Mensch dem Menschen schuldet. Es 
liegt in den Eigennamen ich weiß nicht welche Kraft 
der Gärung, die bewirkt, daß in dem Augenblick, 
wo man sie ausspricht, die Leidenschaften sich er- 
bittern. Wenn ich aber auf dieses Recht verzichte, 
so vermeine ich nicht, diesen Verzicht andern auf- 
zuerlegen. Ich überantworte ihrer Willkür meinen 
Namen, der wenig bedeutet, und meine Person, 
die noch weniger bedeutet. Nur ersuche und bitte 
ich meine Freunde, nicht für sich ein Recht zu be- 
anspruchen, das ich preisgebe, nämlich meine Person 
und meinen Namen zu verteidigen. Für meinen 
Namen ersehne ich das Vergessen, für meine Person 
das Vergessen und die Ruhe.“ Man muß in die 
Geschichte der modernen Polemik einen Blick ge- 
worfen haben, um diese Worte in ihrer vollen 
Bedeutung bei einem Mann von so imponierender 
Geistesgröße zu verstehen. 
Donoso Cortés besaß die Gabe der Divina- 
tion in einem solchen Maß, daß sie zuletzt fast 
die regelmäßige, ständige Form wurde, in der er 
dachte, sprach und schrieb: eine Gabe so außer- 
gewöhnlicher Art, daß solche, welche die Gnaden- 
lehre der Kirche nicht verstanden, von „Inspira- 
tion“ bei ihm sprechen zu dürfen glaubten. Nicht 
um „Inspiration“ handelt es sich hier, sondern 
einfach um Intuition. „Meine Methode“, schrieb 
er an den Grafen Raczynski, „die Dinge zutreffend 
zu beurteilen, ist eine sehr einfache: ich erhebe 
meine Augen zu Gott, und in ihm schaue ich, was 
ich in den menschlichen Ereignissen, für sich allein 
betrachtet, vergeblich suche. Diese Methode ist un- 
fehlbar, und mehr als das, sie ist jedem zu- 
gänglich.“ Donoso Cortés war in seiner ganzen 
Geistesentwicklung von Jugend auf ein genial 
angelegter Denker, dessen lebenslanges Ringen 
nach tieferer Erkenntnis der die politische und 
soziole Welt leitenden Gesetze in ihm eine höhere 
Kraft natürlicher Intuition wachgerufen; dazu 
kam bei ihm das höhere, übernatürliche Licht des 
43“
	        
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