1349
als eben die Nätur der übernatürlichen Dinge in
ihrer unwandelbaren Realität und Festigkeit nie
dem Wechsel der wesentlich wandelbaren irdischen
Dinge sich so anpaßt, um mit mathematischer
Abstraktion das Resultat göttlicher Welt-
lenkung und geschöpflicher Freitätigkeit zu be-
stimmen — entging bisweilen seinem Idealismus.
Auch die kontingenten Dinge verlangen neben den
absoluten ihr Recht. Die Beweglichkeit der Men-
schennatur, die unergründliche Inkonsequenz der
gefallenen Natur, die individuelle Physiognomie,
die Aufeinanderfolge, die ursächliche Verkettung
der einzelnen geschichtlichen Tatsachen, Rassen-
und Volksbildung in ihrer charakteristischen Eigen-
art, geistige Strebungen und Strömungen, wirt-
schaftliche Komplikationen, politische Gestaltungen,
alles das sind in ihrer Art Geheimnisse in ihren
tausendfachen, tief verschlungenen, kaum entwirr-
baren, aber darum nicht weniger realen Einwir-
kungen aufeinander, deren tiefere Erforschung
jedem Versuch mathematischer Logik und Ar-
gumentation sich schlechthin widersetzt, deren
Nichtbeachtung aber leicht zu einem Irrtum des
Urteilens, zu einem Fehler des Verhaltens, ja zu
einer Methode des Denkens führen kann, die oft
in unversöhnlichen Despotismus ausartet, mensch-
liche Freiheit mißachtet und lähmt und dadurch
der göttlichen Einwirkung entfremdet.
Nicht auf Donoso Cortés möchten wir die letzten
Worte angewandt sehen. Seine Lebensaufgabe
war die Verteidigung der Gesellschaft gegen die
tödlichen Angriffe des Sozialismus. Weder aus
seinem persönlichen Verhalten noch aus seinem
amtlichen, in lebenslangem Dienst gegen eine
auf die modernen Ideen sich stützende Regierung
und deren Vertretung auf den erhabensten und
verantwortungsschwersten Posten, weder aus seinen
Reden noch aus seinen Schriften wird man etwas
von jener „pessimistischen“ Feindseligkeit gegen
die moderne Regierungsweise an sich herausfinden,
welche dieselbe „als die Negation der Wahrheit
und der Gerechtigkeit“ ansieht. Nur wenige Daten
gegen die entgegengesetzte Behauptung. Noch am
12. Nov. 1852 schrieb er: „Man darf eine Ord-
nung der Dinge, der man sich fügt, um unerträg-
liche Dinge zu verhindern, nicht mit einer Ord-
nung der Dinge verwechseln, zu der man halten
möchte mit allen Banden der Liebe. Wer der ersten
gibt, was ausschließlich nur der zweiten gebührt,
hat weder das Bewußtsein der persönlichen Würde
noch selbst das der distributiven Gerechtigkeit.“
Den Quietisten des modernen Absolutismus hielt
er, der Freund der angelsächsischen Rasse und ihrer
konstitutionellen Monarchie, der Bewunderer der
ständischen Freiheiten der mittleren Zeiten, immer
wieder die Pflicht des Kampfes um des katholischen
Namens willen vor. Seine freie, stolze, unab-
hängige Denkungsart hatte keine Ahnung von
irgend welchem Servilismus im Namen des reli-
giösen Prinzips. „Ich glaube an meine Ideen“,
sagte er kurz vor seinem Tod, „aber meine Ideen
Donoso Cortes.
1350
können erst nach der Sündflut triumphieren, die
kommen wird, die aber noch nicht gekommen ist.
Ich weiß, daß die Propaganda der Demagogen
nicht ihre Zeit verloren hat, und ich weiß, daß,
wenn die Demagogen kommen werden, nur meine
Ideen Kraft haben werden, ihnen zu widerstehen;
alle andern werden von den alles verschlingenden
Fluten begraben werden.“
Und der Mann solchen Selbstbewußtseins, der
lebenslange Kämpfer für seine Ideen, hatte sich
für seine Polemik gegen deren Gegner die Regeln
aufgestellt: „Ich bin entschlossen, meine Prinzipien
jedesmal zu verteidigen, wenn ich es gelegen halte,
weil diese Prinzipien weder eine Erfindung von
mir noch mein Eigentum sind. In gleicher Weise
bin ich entschlossen, meine Person verteidigungslos
den Fluten des Schimpfes und der Beleidigung
zu überlassen. Ich werde nie einen Eigennamen
aussprechen, um ihn der Diskussion zu unterziehen,
indem ich der Überzeugung lebe, daß dies nicht
geschehen kann, ohne gegen die Achtung zu ver-
stoßen, die der Mensch dem Menschen schuldet. Es
liegt in den Eigennamen ich weiß nicht welche Kraft
der Gärung, die bewirkt, daß in dem Augenblick,
wo man sie ausspricht, die Leidenschaften sich er-
bittern. Wenn ich aber auf dieses Recht verzichte,
so vermeine ich nicht, diesen Verzicht andern auf-
zuerlegen. Ich überantworte ihrer Willkür meinen
Namen, der wenig bedeutet, und meine Person,
die noch weniger bedeutet. Nur ersuche und bitte
ich meine Freunde, nicht für sich ein Recht zu be-
anspruchen, das ich preisgebe, nämlich meine Person
und meinen Namen zu verteidigen. Für meinen
Namen ersehne ich das Vergessen, für meine Person
das Vergessen und die Ruhe.“ Man muß in die
Geschichte der modernen Polemik einen Blick ge-
worfen haben, um diese Worte in ihrer vollen
Bedeutung bei einem Mann von so imponierender
Geistesgröße zu verstehen.
Donoso Cortés besaß die Gabe der Divina-
tion in einem solchen Maß, daß sie zuletzt fast
die regelmäßige, ständige Form wurde, in der er
dachte, sprach und schrieb: eine Gabe so außer-
gewöhnlicher Art, daß solche, welche die Gnaden-
lehre der Kirche nicht verstanden, von „Inspira-
tion“ bei ihm sprechen zu dürfen glaubten. Nicht
um „Inspiration“ handelt es sich hier, sondern
einfach um Intuition. „Meine Methode“, schrieb
er an den Grafen Raczynski, „die Dinge zutreffend
zu beurteilen, ist eine sehr einfache: ich erhebe
meine Augen zu Gott, und in ihm schaue ich, was
ich in den menschlichen Ereignissen, für sich allein
betrachtet, vergeblich suche. Diese Methode ist un-
fehlbar, und mehr als das, sie ist jedem zu-
gänglich.“ Donoso Cortés war in seiner ganzen
Geistesentwicklung von Jugend auf ein genial
angelegter Denker, dessen lebenslanges Ringen
nach tieferer Erkenntnis der die politische und
soziole Welt leitenden Gesetze in ihm eine höhere
Kraft natürlicher Intuition wachgerufen; dazu
kam bei ihm das höhere, übernatürliche Licht des
43“