Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

1391 
tanen regelte der Staat, wenn auch nur für ganz 
kurze Zeit, die Eheschließung in der Weise, daß er 
die Assistenz eines staatlichen Richters dabei ver- 
angte. 
Am meisten leistete der Säkularisation der Ehe 
auch in den katholischen Staaten die Theorie Vor- 
schub, die schon auf dem Trienter Konzil von 
einigen Theologen und dann hauptsächlich von 
M. A. de Dominis und J. Launoi vertreten 
wurde: Ehevertrag und Ehesakrament seien in der 
Weise trennbar, daß jener auch unter Christen 
ohne dieses zustande kommen könne; alles das zu 
regeln, was den Vertrag betreffe, also besonders 
die Aufstellung trennender Hindernisse, sei Sache 
des Staats, mit dessen ausdrücklicher oder still- 
schweigender Genehmigung nur dieses Recht von 
der Kirche ausgeübt werde und ausgeübt worden 
sei. Bereitwillige Verkündiger fand diese Lehre der 
gallikanischen Theologen in den Regalisten und 
später in den febronianischen und josephinischen 
Vertretern des Kirchenrechts, nachdem sie neue 
Nahrung unter der Herrschaft des Naturrechts be- 
kommen hatte, das ebenfalls bei seiner Auffassung 
der Ehe als natürlichen Vertrags die Legislative 
über sie als ursprüngliches Recht dem Staat zu- 
wies. 
Von diesem Geist diktiert nahm nun die Gesetz- 
gebung der Aufklärungsperiode auch in den katho- 
lischen Ländern das Eherecht und die Ehegerichts- 
barkeit als ausschließliche Domäne des Staats in 
Anspruch. In ÖOsterreich geschah dies durch die 
Eheverordnung Josephs II. vom 16. Jan. 1783, 
die aber noch an der kirchlichen Eheschließung fest- 
hielt, in Frankreich durch die Revolutionsgesetze 
vom 14. Sept. 1791 und 20. Sept. 1792, die die 
Ziviltrauung forderten. Was aber folgenschwerer 
war, das Zivileherecht wurde auch ein Bestandteil 
der großen Kodifikationen zu Ende des 18. 
und zu Beginn des 19. Jahrh. Während aber 
das preußische Allgemeine Landrecht von 1794 
und auch das Eherecht des österreichischen All- 
gemeinen bürgerlichen Gesetzbuchs von 1811, das 
im ganzen mit dem josephinischen übereinstimmte, 
wenigstens die kirchliche Eheschließung voraussetz- 
ten, schuf in Frankreich der Code civil von 1804 ein 
ganz selbständiges Zivileherecht mit Einschluß der 
Zivileheschließung. In Osterreich brachte das Kon- 
kordat von 1855 das kirchliche Eherecht für die 
Katholiken wieder zur Anerkennung, und zwar in 
der Form der vom Fürstbischof Kardinal Rauscher 
verfaßten Anweisung für die geistlichen Gerichte 
Osterreichs; doch wurde schon 1868 das bürger- 
liche Eherecht von neuem in Kraft gesetzt und zu- 
gleich die Notzivilehe eingeführt. Die weiteste 
Verbreitung fand infolge der napoleonischen Er- 
oberungen das Eherecht des Code civil, so in 
Holland, Belgien, Elsaß-Lothringen, den Rhein- 
landen, der Rheinpfalz und Baden (hier außer der 
Ziviltrauung). Im Lauf des 19. Jahrh. befaßte 
sich in fast allen Kulturstaaten die welt- 
liche Gesetzgebung mit der Ehe; doch begnügte sie 
Ehe und Eherecht. 
  
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sich meist mit der Einführung der Notzivilehe (in 
Portugal, in den skandinavischen Ländern, in 
Rußland und, nach kurzer Herrschaft der Zwangs- 
zivilehe, in Spanien) oder der fakultativen Zivil- 
ehe (in Nordamerika); dagegen machten Italien 
(Codice civile 1865), die Schweiz (Bundesgesetz 
vom 24. Dez. 1874, Schweizerisches Zivilgesetz- 
buch von 1907) und Ungarn (Gesetzartikel 31 von 
1894) die Zivilehe obligatorisch. 
In Deutschland war die Zwangszivilehe 
zwar schon eine Forderung der deutschen Grund- 
rechte (1848), doch beschränkten sich, außer Frank- 
furt, die meisten Staaten auf die Einführung der 
Not= oder der fakultativen Zivilehe; obligatorisch 
machten sienur Baden (1869) und Preußen (1874). 
Dieses Beispiel war vorbildlich für das neue 
Deutsche Reich. Schon vor der Kodifikation des 
bürgerlichen Rechts unterwarf es seiner Kompetenz, 
wenn auch nicht das ganze, so doch den größten 
Teil des Eherechts, indem es durch das Gesetz 
vom6. Febr. 1875 über die Beurkundung des 
Personenstandes und die Eheschließung zum 
1. Jan. 1876 die obligatorische Zivilehe einführte, 
die materiellen Eheerfordernisse ausschließlich be- 
stimmte und seine Gerichtsbarkeit an die Stelle der 
geistlichen setzte. In der Zivilprozeßordnung 
vom 30. Jan. 1877 (neue Fassung 17. Mai 
1898) folgte die Reglung des bürgerlichen Ehe- 
prozesses. Der eherechtliche Inhalt des Personen- 
standsgesetzes ist, zu einem vollständigen Eherecht 
ausgebaut, im wesentlichen in das 4. Buch des 
Bürgerlichen Gesetzbuchs vom 18. Aug. 
1896 übergegangen. Seit dem 1. Jan. 1900 gilt 
also im ganzen Deutschen Reich dieses Zivileherecht. 
Es trägt denselben Charakter wie jenes Reichsgesetz. 
Selbständig und ausschließlich regelt es die ganze 
rechtliche Seite der Ehe, ohne, soviel an ihm liegt, 
dem kirchlichen Recht Raum zu lassen oder auf es 
Rücksicht zu nehmen. Vielmehr widerspricht das 
Recht der Eheschließung und ihrer Voraussetzungen, 
besonders die beibehaltene Zwangszivilehe, und 
das Scheidungsrecht wesentlich den kirchlichen Be- 
stimmungen. In katholischen und in konservativ- 
protestantischen Kreisen wurden denn auch die 
Gesetzentwürfe scharf bekämpft und vor allem der 
Ersatz der obligatorischen durch die Not= oder die 
Wahlzivilehe verlangt. Doch wurde der Wider- 
stand im Reichstag durch den Hinblick auf die 
nationale Bedeutung des Gesetzgebungswerkes und 
durch die Furcht vor seinem Scheitern gedämpft 
und schließlich durch Zugeständnisse der Regierung 
gebrochen, die wenigstens die ärgsten Gewissens- 
bedenken ausräumten. So kam das Gesetzbuch 
und sein Zivileherecht auch mit Zustimmung der 
damals ausschlaggebenden Partei des Zentrums 
zustande, nachdem diese in einer Erklärung ihren 
grundsätzlichen Standpunkt gewahrt hatte. Die 
obligatorische Zivilehe allerdings und auch die 
Forderung, daß sie vor der kirchlichen Trauung 
stattzufinden habe, war bestehen geblieben, und die 
Strafandrohung für den hiergegen verstoßenden
	        
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