Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

1481 
augenscheinlich eine rechte Zeitfigur, und es habe 
in der jüngsten Zeit die Anschauung große Fort- 
schritte gemacht, welche den Beruf des Rentiers 
für den vornehmsten unter allen ansieht, und alle 
Welt stimme darin überein, sein Leben, um mit 
Plato zu reden, für süß und frei und glücklich zu 
halten. Amüsements, Spiel, Liebschaften, Sport, 
Trunk, Vereinsgründungen, Reisen, Politik, 
Börsenspekulation füllen ein solches Dasein aus, 
bis endlich Erschöpfung und Lebensekel eintritt 
und den Beschluß macht (Paulsen, System der 
Ethik II 54 ). Die Rentenbezieher, soweit ihr 
Eigentum nicht auf der Arbeit ihrer Person ruht, 
haben der Gesellschaft, wenn diese ihr arbeitsloses 
Einkommen als sittlich einwandfrei betrachten soll, 
Gegenleistungen zu bieten. Als ein solches 
Aquivalent galt stets die Ubernahme öffentlicher 
Funktionen, z. B. die Führung und Vertretung 
des Volkes nach außen im Frieden und im Krieg 
oder die Rechtsverwaltung und Rechtsbildung, 
nicht minder die priesterliche Funktion oder die 
Verwaltung der geistigen Gaben und Güter eines 
Volkes in Wissenschaft und Kunst. „Und auch die 
Anordnung und Leitung der wirtschaftlichen Pro- 
duktion, ja selbst die Bestimmung der Konsumtion 
im Sinn schöner Lebensgestaltung, durch Vorgang 
und Anregung, durch öffentliche Freigebigkeit und 
private Wohltätigkeit kann noch als solche Gegen- 
leistung gerechnet werden. In diesem Sinn haben 
Adel und Klerus, wo sie lebendige Glieder des 
Volkskörpers waren, ihre Stellung aufgefaßt und 
erfüllt. Wer aber gar nichts leistet, der entzieht 
sich der mit der Ubernahme des Eigentums still- 
schweigend übernommenen Verpflichtung und be- 
sitzt demnach, moralisch geurteilt, das Eigentum 
mit Unrecht. Der reine Rentenverzehrer ist, ab- 
gesehen von dem Emeritus, ein Dieb. Dies fühlt 
übrigens das Volk sehr wohl, und offenbar lag 
etwas von diesem Gefühl auch dem Verbot des 
Zinsnehmens, wie es die alte Kirche aufrecht- 
erhielt, zugrunde: wer ohne Arbeit, allein von 
ererbten Renten lebt, der lebt von fremder Arbeit, 
denn Geld trägt ja, wie Aristoteles sagt, keine 
Frucht“ (Paulsen a. a. O. II 56 s). 
Freilich, die Gesetzgebung läßt auch denjenigen, 
der diese Gegenleistung der Gesellschaft schuldig 
bleibt, im ungestörten Genuß seines Eigentums. 
Das Recht exekutiert nicht den Richterspruch der 
Moral und könnte dies auch nicht, da sich eine 
geeignete Rechtsformel hierfür nicht leicht wird 
finden lassen und auf der andern Seite die Un- 
sicherheit, die dadurch über den ganzen Bereich 
des Privateigentums käme, kaum ein geringerer 
Schaden wäre. Aber indem sich das Privat- 
eigentum seiner sozialen Funktion entschlägt, stellt 
es sich selbst außerhalb des Bodens, auf dem es 
stehen muß, um seine Rechtfertigung zu finden. 
Wenn die Besitzenden die soziale Pflicht ver- 
kennen, wird die Masse der „Enterbten“ auch 
das individuelle Recht nicht weiter aner- 
kennen, und einigermaßen vollzieht die Geschichte 
  
Eigentum. 
  
1482 
das Urteil der Moral und gleicht jenen Wider- 
spruch zwischen Recht und sittlichem Empfinden 
aus. Wo immer die besitzenden Klassen ihrer 
sozialen Leistungen vergaßen und nur die Güter 
und Nutzungen als wohlerworbene Rechte fest- 
hielten, da mochte dies eine Weile gehen; aber 
zuletzt kam der Tag, an dem sie als unnütze 
Glieder oder schädliche Schmarotzer am sozialen 
Körper abgestoßen wurden. So ging die Geschichte 
in der französischen Revolution mit dem französi- 
schen Adel ins Gericht, wie die Kirchenrevolution 
im 16. Jahrh. das Urteil an dem seiner Aufgabe 
untreu gewordenen Klerus vollzog. „Der Rentier 
wird der Geschichte nicht heiliger sein als Adel und 
Klerus“ (Paulsen a. a. O. II 57). Paulsen 
weist auf die Erscheinung hin, daß die Gesellschaft 
in immer weiterem Umfang die sozialen Funktio- 
nen, die ursprünglich von den Begüterten im Ehren- 
amt geleistet wurden, angestellten und besoldeten 
Beamten überträgt. Es ist klar, daß, wenn man 
wie Paulsen die Begründung des Eigentums bloß 
unter dem Gesichtspunkt der teleologischen Not- 
wendigkeit bzw. Zweckmäßigkeit für möglich er- 
achtet, eben durch diese Entwicklung der Dinge 
schrittweise die teleologische Notwendigkeit des 
Grund= und Kapitalbesitzes vermindert erscheinen 
muß. Damit nimmt in entsprechendem Maß auch 
die Festigkeit seines Bestands ab, es wird zum 
toten Glied am sozialen Organismus; „Dinge, 
die nicht mehr in den Lebensbedingungen der 
Gesellschaft ihre Wurzeln haben, sterben ab. Man 
setze den Fall, ein paar tausend Familien in Deutsch- 
land brächten alle Rententitel in ihre Hände, so 
daß alle andern von bloßem Arbeitseinkommen 
lebten, jene dagegen nichts leisteten außer der 
Verzehrung der Rente: es ist augenscheinlich, daß 
ihnen geschehen würde, wie vor 100 Jahren dem 
französischen Adel geschehen. Stehen wir vor einem 
neuen Gerichtstag der Weltgeschichte “ (Paulsen 
a. a. O. II 58.) 
Aber wenn es auch in der Tat zutrifft, daß jene 
sozialen Funktionen, die einst wie eine Art öffent- 
liches Amt auf dem Besitz ruhten, heute von besol- 
deten Angestellten, Beamten, Militärs usw. voll- 
zogen werden, so ist doch ebensowenig zu verkennen, 
daß nach einer Seite der soziale Pflichtenkreis des 
Eigentums um ein ganz bedeutendes sich erweitert 
hat. Erinnert sei nur wieder an das Gebiet der 
wirtschaftlichen Produktion. Eine Summe von 
Pflichtleistungen erwächst hier dem Kapital. Wenn 
es da der Fabrikant ernst nehmen will, wie viele 
Gelegenheiten bieten sich ihm, sein Eigentum 
nicht, wie der Sozialismus es verschreit, als 
Machtmittel zur Knechtung Unglücklicher zu ge- 
brauchen, sondern dasselbe als ein wohltätig wir- 
kendes Machtmittel zur Beseitigung fremden Un- 
glücks aufs schönste zu rechtfertigen! Und zu allen 
Zeiten wird auch die freie Liebestätigkeit, die im 
Almosen in der gewöhnlichen Bedeutung des 
Worts gepflegt wird, ein weites Feld des Schaf- 
fens finden. Gerade im industriellen und geschäft-
	        
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