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augenscheinlich eine rechte Zeitfigur, und es habe
in der jüngsten Zeit die Anschauung große Fort-
schritte gemacht, welche den Beruf des Rentiers
für den vornehmsten unter allen ansieht, und alle
Welt stimme darin überein, sein Leben, um mit
Plato zu reden, für süß und frei und glücklich zu
halten. Amüsements, Spiel, Liebschaften, Sport,
Trunk, Vereinsgründungen, Reisen, Politik,
Börsenspekulation füllen ein solches Dasein aus,
bis endlich Erschöpfung und Lebensekel eintritt
und den Beschluß macht (Paulsen, System der
Ethik II 54 ). Die Rentenbezieher, soweit ihr
Eigentum nicht auf der Arbeit ihrer Person ruht,
haben der Gesellschaft, wenn diese ihr arbeitsloses
Einkommen als sittlich einwandfrei betrachten soll,
Gegenleistungen zu bieten. Als ein solches
Aquivalent galt stets die Ubernahme öffentlicher
Funktionen, z. B. die Führung und Vertretung
des Volkes nach außen im Frieden und im Krieg
oder die Rechtsverwaltung und Rechtsbildung,
nicht minder die priesterliche Funktion oder die
Verwaltung der geistigen Gaben und Güter eines
Volkes in Wissenschaft und Kunst. „Und auch die
Anordnung und Leitung der wirtschaftlichen Pro-
duktion, ja selbst die Bestimmung der Konsumtion
im Sinn schöner Lebensgestaltung, durch Vorgang
und Anregung, durch öffentliche Freigebigkeit und
private Wohltätigkeit kann noch als solche Gegen-
leistung gerechnet werden. In diesem Sinn haben
Adel und Klerus, wo sie lebendige Glieder des
Volkskörpers waren, ihre Stellung aufgefaßt und
erfüllt. Wer aber gar nichts leistet, der entzieht
sich der mit der Ubernahme des Eigentums still-
schweigend übernommenen Verpflichtung und be-
sitzt demnach, moralisch geurteilt, das Eigentum
mit Unrecht. Der reine Rentenverzehrer ist, ab-
gesehen von dem Emeritus, ein Dieb. Dies fühlt
übrigens das Volk sehr wohl, und offenbar lag
etwas von diesem Gefühl auch dem Verbot des
Zinsnehmens, wie es die alte Kirche aufrecht-
erhielt, zugrunde: wer ohne Arbeit, allein von
ererbten Renten lebt, der lebt von fremder Arbeit,
denn Geld trägt ja, wie Aristoteles sagt, keine
Frucht“ (Paulsen a. a. O. II 56 s).
Freilich, die Gesetzgebung läßt auch denjenigen,
der diese Gegenleistung der Gesellschaft schuldig
bleibt, im ungestörten Genuß seines Eigentums.
Das Recht exekutiert nicht den Richterspruch der
Moral und könnte dies auch nicht, da sich eine
geeignete Rechtsformel hierfür nicht leicht wird
finden lassen und auf der andern Seite die Un-
sicherheit, die dadurch über den ganzen Bereich
des Privateigentums käme, kaum ein geringerer
Schaden wäre. Aber indem sich das Privat-
eigentum seiner sozialen Funktion entschlägt, stellt
es sich selbst außerhalb des Bodens, auf dem es
stehen muß, um seine Rechtfertigung zu finden.
Wenn die Besitzenden die soziale Pflicht ver-
kennen, wird die Masse der „Enterbten“ auch
das individuelle Recht nicht weiter aner-
kennen, und einigermaßen vollzieht die Geschichte
Eigentum.
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das Urteil der Moral und gleicht jenen Wider-
spruch zwischen Recht und sittlichem Empfinden
aus. Wo immer die besitzenden Klassen ihrer
sozialen Leistungen vergaßen und nur die Güter
und Nutzungen als wohlerworbene Rechte fest-
hielten, da mochte dies eine Weile gehen; aber
zuletzt kam der Tag, an dem sie als unnütze
Glieder oder schädliche Schmarotzer am sozialen
Körper abgestoßen wurden. So ging die Geschichte
in der französischen Revolution mit dem französi-
schen Adel ins Gericht, wie die Kirchenrevolution
im 16. Jahrh. das Urteil an dem seiner Aufgabe
untreu gewordenen Klerus vollzog. „Der Rentier
wird der Geschichte nicht heiliger sein als Adel und
Klerus“ (Paulsen a. a. O. II 57). Paulsen
weist auf die Erscheinung hin, daß die Gesellschaft
in immer weiterem Umfang die sozialen Funktio-
nen, die ursprünglich von den Begüterten im Ehren-
amt geleistet wurden, angestellten und besoldeten
Beamten überträgt. Es ist klar, daß, wenn man
wie Paulsen die Begründung des Eigentums bloß
unter dem Gesichtspunkt der teleologischen Not-
wendigkeit bzw. Zweckmäßigkeit für möglich er-
achtet, eben durch diese Entwicklung der Dinge
schrittweise die teleologische Notwendigkeit des
Grund= und Kapitalbesitzes vermindert erscheinen
muß. Damit nimmt in entsprechendem Maß auch
die Festigkeit seines Bestands ab, es wird zum
toten Glied am sozialen Organismus; „Dinge,
die nicht mehr in den Lebensbedingungen der
Gesellschaft ihre Wurzeln haben, sterben ab. Man
setze den Fall, ein paar tausend Familien in Deutsch-
land brächten alle Rententitel in ihre Hände, so
daß alle andern von bloßem Arbeitseinkommen
lebten, jene dagegen nichts leisteten außer der
Verzehrung der Rente: es ist augenscheinlich, daß
ihnen geschehen würde, wie vor 100 Jahren dem
französischen Adel geschehen. Stehen wir vor einem
neuen Gerichtstag der Weltgeschichte “ (Paulsen
a. a. O. II 58.)
Aber wenn es auch in der Tat zutrifft, daß jene
sozialen Funktionen, die einst wie eine Art öffent-
liches Amt auf dem Besitz ruhten, heute von besol-
deten Angestellten, Beamten, Militärs usw. voll-
zogen werden, so ist doch ebensowenig zu verkennen,
daß nach einer Seite der soziale Pflichtenkreis des
Eigentums um ein ganz bedeutendes sich erweitert
hat. Erinnert sei nur wieder an das Gebiet der
wirtschaftlichen Produktion. Eine Summe von
Pflichtleistungen erwächst hier dem Kapital. Wenn
es da der Fabrikant ernst nehmen will, wie viele
Gelegenheiten bieten sich ihm, sein Eigentum
nicht, wie der Sozialismus es verschreit, als
Machtmittel zur Knechtung Unglücklicher zu ge-
brauchen, sondern dasselbe als ein wohltätig wir-
kendes Machtmittel zur Beseitigung fremden Un-
glücks aufs schönste zu rechtfertigen! Und zu allen
Zeiten wird auch die freie Liebestätigkeit, die im
Almosen in der gewöhnlichen Bedeutung des
Worts gepflegt wird, ein weites Feld des Schaf-
fens finden. Gerade im industriellen und geschäft-