Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

1493 
eigentum anhaftenden Auswüchse, die es zum 
„Kapitalismus machen — Auswüchse, die kaum 
ein Vernünftiger mehr bestreitet —, hat der Staat 
nach Möglichkeit zu beseitigen. Das Eigentum 
muß nicht naturnotwendig in der Gestalt des, um 
mit Marx zu sprechen, „aus allen Poren schmutz- 
und bluttriefenden“ Kapitals auftreten, das beim 
„freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte“ den 
Arbeiter zur unpersönlichen Ware degradiert und 
das seine Wert= bzw. Mehrwertbildung der Aus- 
beutung der menschlichen Arbeitskraft verdankt. 
An Aufgaben für die unmittelbar im 
Weg der Gesetzgebung erfolgende Einwirkung des 
Staats auf die Eigentumsordnung ist kein Mangel. 
Wenn öffentliche Unternehmungen, die im Inter- 
esse aller liegen, zu ihrer Durchführung es er- 
fordern, daß jemand sein Eigentum, etwa einen 
Bodenkomplex zum Bau einer Eisenbahn, abtrete, 
so kann der Staat die Enteignung, natürlich 
gegen volle Entschädigung, vollziehen. Weit wich- 
tiger aber ist es, daß der Staat für eine sozial 
gesunde, d. h. dem Mittelstandsideal sich an- 
nähernde Eigentumsverteilung sorge. Außer dem 
auch auf städtische Baustellen auszudehnenden 
Enteignungsrecht verdient der Ausbau eines eige- 
nen Agrarrechts Erwähnung, da Natur und Zweck 
der Immobilien andere sind als jene des beweg- 
lichen Kapitals und diese verschiedene wirtschaft- 
liche Natur auch ein anderes Erbrecht (s. d. Art. 
Anerbe) und eine andere Eigentumsordnung be- 
dingt. Weitere Eigentumsgesetze betreffen das in 
früheren Zeiten so streng überwachte Leiheigentum 
(s. d. Art. Wucher), die Erbrechtsordnung, die Ver- 
hütung des bloß spekulativen Grundbesitzwechsels, 
den Baustellenwucher, den Wertzuwachs u. dgl. 
Besonders dürfte aber auch die Lohnfrage ein 
Gebiet darstellen, auf welchem der Staat in der 
Richtung der Eigentumsverteilung wirken könnte. 
— Weiter kann es Fälle geben, wo die augenblick- 
liche Nutzenziehung dem volkswirtschaftlichen Be- 
trieb widerspricht (Raubbau); daher ist für Wald- 
boden öffentliches Eigentum vorzuziehen, und auch 
für Bergwerke wird von manchen Kathedersozialisten 
Staatsbetrieb verlangt, weil die Kohle die Speise 
des wirtschaftlichen Prozesses ist und durch die oft 
gewaltigen Streiks der Kohlenarbeiter, wie sie die 
Neuzeit gesehen, nicht bloß die Industrie schwer 
geschädigt wird, sondern auch noch weite, an sich 
an dem Krieg zwischen Kapital und Arbeit ganz 
unbeteiligte Kreise in Mitleidenschaft gezogen 
werden. 
Was gewisse Spekulationsgewinne, besonders 
die durch das Differenzspiel an der Börse errafften, 
anlangt, so hat die Obrigkeit gerade im Interesse 
der Heiligkeit des Eigentums nach Kräften jedem 
irgendwie anrüchigen Eigentumserwerb zu steuern. 
Dem Volk darf sich nicht der Gedanke aufdrängen: 
Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man 
laufen. Es ist durchaus am Platz, wenn die Ge- 
setzgebung nicht nur die kleinen, alltäglichen Eigen- 
tumsverletzungen ins Auge faßt, sondern sich auch 
Eigentum. 
  
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den großen Eigentümern gegenüber volle Unab- 
hängigkeit bewahrt und sich nicht mit den all- 
gemein strafrechtlichen Schranken begnügt. 
Außer dem direkten Eingreifen in die Eigen- 
tumsordnung gibt es noch viele Wege der mittel- 
baren Einflußnahme seitens der Staatsgewalt. 
Einmal kann sie durch das Steuerwesen die 
Verteilung der öffentlichen Lasten zugunsten der 
schwächeren Schultern rehulieren. Ferner kann 
der Staat, insofern er selbst Eigentümer ist, auf 
seinen Domänen den Privateigentümern ein 
Muster abgeben. Im Wesen des ausschließlich 
privatwirtschaftlichen Systems liegt es, immer 
mehr auf Herabsetzung des Arbeitslohns hinzu- 
arbeiten; daher ist es von großer Bedeutung, daß 
auch Wirtschaften existieren, deren Bestreben darauf 
gerichtet ist, dieser Tendenz entgegenzuwirken und 
in dieser Richtung einen Druck auf die Unter- 
nehmer auszuüben. Und insofern kann man sagen, 
daß Produktiveigentum in den Händen des Staats 
nicht nur Produktivmittel zur Erzielung wirt- 
schaftlicher Erträgnisse, sondern auch in gewissem 
Sinn Faktor der Eigentums= und Einkommens- 
verteilung wird. Die mittelbare Einwirkung auf 
die Eigentumsverhältnisse geht aber noch weiter. 
Die ganze Arbeiterschutzgesetzgebung, die Be- 
schränkung der Freiheit des Arbeitsvertrags, die 
Frauen= und Kinderarbeit, die sanitären Anfor- 
derungen an die Arbeitsräume, die Anordnung 
von Ruhepausen und Durchführung der Sonn- 
tagsfeier verhindern gewissenlose Eigentümer, ihre 
ökonomische Uberlegenheit zu mißbrauchen. Dies 
sind keine unbefugten Eingriffe in die Heiligkeit 
des Privateigentums; denn der Eigentümer ist ein 
Glied der staatlichen Gesellschaft und 
das Eigentum eine soziale Institution in- 
sofern, als es nicht bloß dem Wohl des einzelnen 
und der Familie dienen, sondern seine segens- 
reichen Wirkungen über die Gesamtheit erstrecken 
soll. Eigentum gibt Macht, und daß diese Macht 
nicht zum Schaden der Gesamtheit mißbraucht 
werde, dafür zu sorgen ist Aufgabe der Staats- 
gewalt. 
Literatur. Proudhon, Qu'est-ee que la pro- 
priété (Besanc. 1840, deutsch 1844); V. Mayer, 
Das E. nach den versch. Weltanschauungen (1871); 
Laoveleye, De la propriété et des formes primitives 
(Par. 51901, deutsch 1879); Samter, Gesellschaft- 
liches u. Privateigentum (1877); Ad. Wagner, 
Lehrbuch der polit. Okonomie. I. Grundlegung 
(81892); Felix, Der Einfluß der Natur auf die 
Entwicklung des E.3 (1883); ders., Der Einfluß der 
Sitten u. Gebräuche auf die Entwicklung des E.s 
(1886); ders., Der Einfluß der Religion auf die 
Entwicklung des E.s (1889); ders., Der Einfluß 
von Staat u. Recht auf die Entwicklung des E.s 
(3 Bde, 1896/1903); G. Adler, Gesch. des Sozialis- 
mus u. Kommunismus von Plato bis zur Gegenwart 
1 (1899); Maurenbrecher, Thomas von Aquinos 
Stellung zum Wirtschaftsleben seiner Zeit (1898); 
Hitze, Kapital u. Arbeit (1881); v. Hertling, Of- 
fener Brief zur Beantwortung der Göttinger Ju- 
biläumsrede (1887); ders., Naturrecht u. Sozial-
	        
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