Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

1623 
solche Erleichterung des Gedankenaustausches auch 
die übrigen Beziehungen der Menschen unterein- 
ander beeinflußt werden, läßt sich hier nicht näher 
ausführen. Nur mag besonders darauf hingewiesen 
werden, daß durch die Eisenbahnen die rascheste 
Verbreitung von Drucksachen, speziell von Tages- 
zeitungen und Zeitschriften, möglich geworden ist. 
Die durch die Eisenbahnen verursachte Verbil- 
ligung und Beschleunigung des Reisens hat zur 
Folge gehabt, daß heute zahllose Reisen gemacht 
werden, an die unter den früheren Verhältnissen 
gar nicht zu denken war; Reisen, die man früher 
einmal im Leben machte, sind heute etwas Alltäg- 
liches. Wir sind so weit gekommen, daß z. B. ein 
Kölner von einer Reise nach Berlin oder Rom 
nicht anders spricht wie ehedem von einer Reise 
nach Krefeld oder Koblenz. Indem die Eisen- 
bahnen so das Reisen vertausendfacht haben, 
bringen sie die Völker einander näher, erweitern 
sie den Gesichtskreis und bewirken, daß die Er- 
findungen und Entdeckungen eines Volkes bald 
Gemeingut aller Völker werden. 
Das Reisen ist für ganze Länder eine Quelle 
des Wohlstands geworden, wie z. B. für die 
Schweiz und Italien. 
Es ist geradezu unmöglich, die sämtlichen Wir- 
kungen der Eisenbahnen aufzuzählen. Alle mensch- 
lichen Verhältnisse, sogar die ethischen, sind von 
ihnen beeinflußt; Dialekte, Volkssitten und 
Standesunterschiede werden durch sie nivelliert. 
Durch die Eisenbahnen wird auch die Macht 
des Staats ganz erheblich gefestigt. Der einheit- 
liche Wille der Staatsregierung kann sich leichter 
und rascher geltend machen. Von den Zentral- 
stellen aus kann mit Leichtigkeit das ganze Land 
bereist, können die Beamten kontrolliert, die Verhält- 
nisse der verschiedenen Landesteile untersucht werden. 
Ob die französische Revolution möglich gewesen 
wäre, wenn damals Paris mit dem übrigen Frank- 
reich und dem Ausland durch Eisenbahnen verbun- 
den gewesen wäre, ist zum mindesten zweifelhaft. 
Die durch die Eisenbahnen bewirkte Entwicklung 
des Handels und der Industrie ist für die Staats- 
regierungen von Bedeutung wegen der durch sie 
verursachten Erhöhung der Zölle und Steuern. 
Herrscht nun gar Staatsbahnsystem, so wird die 
Staatsgewalt erst recht gesteigert; es werden dann 
die Eisenbahnen für den Staat auch eine sehr er- 
giebige Finanzquelle. Von größter Bedeutung ist 
ferner der Einfluß, den dann der Staat als Herr 
des Eisenbahnverkehrs durch seine Tarifpolitik auf 
die Gestaltung des Wirtschaftslebens auszuüben 
vermag; durch regulierende Tarifgestaltung kann 
er nämlich dem Gemeinwohl schädlichen wirt- 
schaftlichen Verschiebungen vorbeugen sowie Ge- 
genden und Industrien, die unter besonders un- 
günstigen Verhältnissen leiden, Hilfe bringen. 
Man wird mit der Behauptung nicht fehlgehen, 
daß die gerechte und weise Ausübung der Tarif- 
politik die vornehmste und schwierigste Aufgabe 
der Eisenbahnverwaltung ist. 
Eisenbahnen. 
  
1524 
Dem Ausland gegenüber bietet das Eisenbahn- 
wesen, besonders das Staatsbahnsystem, einschnei- 
dende Machtmittel, namentlich durch das Tarif- 
wesen: die Wirkung hoher ausländischer Ein- 
gangszölle kann zugunsten der einheimischen In- 
dustrie und Landwirtschaft durch Gewährung bil- 
liger Frachten abgeschwächt werden, umgekehrt 
kann durch Erhöhung der inländischen Frachten 
dem Ausland wie durch einen Schutzzoll entgegen- 
getreten werden. 
Auch für die Kriegführung sind die Eisen- 
bahnen von der allergrößten Bedeutung. Dies 
hat sich zuerst im amerikanischen Sezessions- 
krieg gezeigt. Die Mobilmachung und der Auf- 
marsch der Armeen sowie der Nachschub der 
Truppen und Kriegsmaterialien vollzieht sich 
unter Beihilfe der Eisenbahnen in kurzer Zeit. 
Eine Folge hiervon ist die Verkürzung der Kriegs- 
dauer. Nach dem Vorbild Amerikas haben auch 
die andern Staaten bei ihren Armeen Eisenbahn- 
truppen eingeführt. 
Aus dem Gesagten geht hervor, wie richtig 
Ghega, der geniale Erbauer der Semmeringbahn, 
schon im Jahr 1851 die Rolle erfaßt hat, welche 
die Eisenbahnen im Gefüge der Weltwirtschaft zu 
spielen berufen sind, als er zu seinem Wahlspruch 
die Worte wählte: „Durch die Eisenbahnen ver- 
schwinden die Distanzen; die materiellen Inter- 
essen werden gefördert, die Kultur wird gehoben 
und verbreitet.“ 
B. Ersetzung der Dampfkraft durch 
elektrische Kraft. Seitdem auf der Berliner 
Gewerbeausstellung im Jahr 1879 die erste elek- 
trische Bahn als Ausstellungsobjekt vorgeführt 
worden, hat der Bau elektrischer Straßenbahnen 
sich in überraschend schnellem Maß entwickelt. 
Ganz besonders ist bei dieser Entwicklung Deutsch- 
land beteiligt. Es muß daher eigentlich befrem- 
den, daß in der Anwendung der elektrischen 
Kraft für den Betrieb von Vollbahnen andere 
Länder, z. B. Italien, früher und in größerem 
Umfang sich betätigten. Es hat dies wohl seinen 
Hauptgrund darin, daß wir es in Deutschland bei 
den Vollbahnen fast ausschließlich mit Staats- 
bahnen zu tun haben und der Staat bei der Ein- 
führung von Neuerungen natürlicherweise weit vor- 
sichtiger zu Werke gehen muß, als dies Privat- 
gesellschaften brauchen. Doch sind seit Jahren in 
Deutschland auf verschiedenen Staatsstrecken Ver- 
suche gemacht worden, die den Nachweis der Ren- 
tabilität des elektrischen Betriebs auch für den 
Fernverkehr unter der doppelten Voraussetzung 
erbracht haben, daß Wasserkräfte oder zur Loko- 
motivfeuerung nicht brauchbare Brennmaterialien 
zur Verfügung stehen, und daß es sich um einen 
dichten Betrieb handelt. Infolgedessen ist man in 
Bayern dabei, den elektrischen Betrieb auf geeig- 
neten Strecken der Staatsbahn einzuführen, wo- 
bei die erforderliche elektrische Energie aus den 
vorhandenen reichen natürlichen Wasserkräften ge- 
holt werden soll. In Baden ist der elektrische Be-
	        
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