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solche Erleichterung des Gedankenaustausches auch
die übrigen Beziehungen der Menschen unterein-
ander beeinflußt werden, läßt sich hier nicht näher
ausführen. Nur mag besonders darauf hingewiesen
werden, daß durch die Eisenbahnen die rascheste
Verbreitung von Drucksachen, speziell von Tages-
zeitungen und Zeitschriften, möglich geworden ist.
Die durch die Eisenbahnen verursachte Verbil-
ligung und Beschleunigung des Reisens hat zur
Folge gehabt, daß heute zahllose Reisen gemacht
werden, an die unter den früheren Verhältnissen
gar nicht zu denken war; Reisen, die man früher
einmal im Leben machte, sind heute etwas Alltäg-
liches. Wir sind so weit gekommen, daß z. B. ein
Kölner von einer Reise nach Berlin oder Rom
nicht anders spricht wie ehedem von einer Reise
nach Krefeld oder Koblenz. Indem die Eisen-
bahnen so das Reisen vertausendfacht haben,
bringen sie die Völker einander näher, erweitern
sie den Gesichtskreis und bewirken, daß die Er-
findungen und Entdeckungen eines Volkes bald
Gemeingut aller Völker werden.
Das Reisen ist für ganze Länder eine Quelle
des Wohlstands geworden, wie z. B. für die
Schweiz und Italien.
Es ist geradezu unmöglich, die sämtlichen Wir-
kungen der Eisenbahnen aufzuzählen. Alle mensch-
lichen Verhältnisse, sogar die ethischen, sind von
ihnen beeinflußt; Dialekte, Volkssitten und
Standesunterschiede werden durch sie nivelliert.
Durch die Eisenbahnen wird auch die Macht
des Staats ganz erheblich gefestigt. Der einheit-
liche Wille der Staatsregierung kann sich leichter
und rascher geltend machen. Von den Zentral-
stellen aus kann mit Leichtigkeit das ganze Land
bereist, können die Beamten kontrolliert, die Verhält-
nisse der verschiedenen Landesteile untersucht werden.
Ob die französische Revolution möglich gewesen
wäre, wenn damals Paris mit dem übrigen Frank-
reich und dem Ausland durch Eisenbahnen verbun-
den gewesen wäre, ist zum mindesten zweifelhaft.
Die durch die Eisenbahnen bewirkte Entwicklung
des Handels und der Industrie ist für die Staats-
regierungen von Bedeutung wegen der durch sie
verursachten Erhöhung der Zölle und Steuern.
Herrscht nun gar Staatsbahnsystem, so wird die
Staatsgewalt erst recht gesteigert; es werden dann
die Eisenbahnen für den Staat auch eine sehr er-
giebige Finanzquelle. Von größter Bedeutung ist
ferner der Einfluß, den dann der Staat als Herr
des Eisenbahnverkehrs durch seine Tarifpolitik auf
die Gestaltung des Wirtschaftslebens auszuüben
vermag; durch regulierende Tarifgestaltung kann
er nämlich dem Gemeinwohl schädlichen wirt-
schaftlichen Verschiebungen vorbeugen sowie Ge-
genden und Industrien, die unter besonders un-
günstigen Verhältnissen leiden, Hilfe bringen.
Man wird mit der Behauptung nicht fehlgehen,
daß die gerechte und weise Ausübung der Tarif-
politik die vornehmste und schwierigste Aufgabe
der Eisenbahnverwaltung ist.
Eisenbahnen.
1524
Dem Ausland gegenüber bietet das Eisenbahn-
wesen, besonders das Staatsbahnsystem, einschnei-
dende Machtmittel, namentlich durch das Tarif-
wesen: die Wirkung hoher ausländischer Ein-
gangszölle kann zugunsten der einheimischen In-
dustrie und Landwirtschaft durch Gewährung bil-
liger Frachten abgeschwächt werden, umgekehrt
kann durch Erhöhung der inländischen Frachten
dem Ausland wie durch einen Schutzzoll entgegen-
getreten werden.
Auch für die Kriegführung sind die Eisen-
bahnen von der allergrößten Bedeutung. Dies
hat sich zuerst im amerikanischen Sezessions-
krieg gezeigt. Die Mobilmachung und der Auf-
marsch der Armeen sowie der Nachschub der
Truppen und Kriegsmaterialien vollzieht sich
unter Beihilfe der Eisenbahnen in kurzer Zeit.
Eine Folge hiervon ist die Verkürzung der Kriegs-
dauer. Nach dem Vorbild Amerikas haben auch
die andern Staaten bei ihren Armeen Eisenbahn-
truppen eingeführt.
Aus dem Gesagten geht hervor, wie richtig
Ghega, der geniale Erbauer der Semmeringbahn,
schon im Jahr 1851 die Rolle erfaßt hat, welche
die Eisenbahnen im Gefüge der Weltwirtschaft zu
spielen berufen sind, als er zu seinem Wahlspruch
die Worte wählte: „Durch die Eisenbahnen ver-
schwinden die Distanzen; die materiellen Inter-
essen werden gefördert, die Kultur wird gehoben
und verbreitet.“
B. Ersetzung der Dampfkraft durch
elektrische Kraft. Seitdem auf der Berliner
Gewerbeausstellung im Jahr 1879 die erste elek-
trische Bahn als Ausstellungsobjekt vorgeführt
worden, hat der Bau elektrischer Straßenbahnen
sich in überraschend schnellem Maß entwickelt.
Ganz besonders ist bei dieser Entwicklung Deutsch-
land beteiligt. Es muß daher eigentlich befrem-
den, daß in der Anwendung der elektrischen
Kraft für den Betrieb von Vollbahnen andere
Länder, z. B. Italien, früher und in größerem
Umfang sich betätigten. Es hat dies wohl seinen
Hauptgrund darin, daß wir es in Deutschland bei
den Vollbahnen fast ausschließlich mit Staats-
bahnen zu tun haben und der Staat bei der Ein-
führung von Neuerungen natürlicherweise weit vor-
sichtiger zu Werke gehen muß, als dies Privat-
gesellschaften brauchen. Doch sind seit Jahren in
Deutschland auf verschiedenen Staatsstrecken Ver-
suche gemacht worden, die den Nachweis der Ren-
tabilität des elektrischen Betriebs auch für den
Fernverkehr unter der doppelten Voraussetzung
erbracht haben, daß Wasserkräfte oder zur Loko-
motivfeuerung nicht brauchbare Brennmaterialien
zur Verfügung stehen, und daß es sich um einen
dichten Betrieb handelt. Infolgedessen ist man in
Bayern dabei, den elektrischen Betrieb auf geeig-
neten Strecken der Staatsbahn einzuführen, wo-
bei die erforderliche elektrische Energie aus den
vorhandenen reichen natürlichen Wasserkräften ge-
holt werden soll. In Baden ist der elektrische Be-