1573
Verdun, ein Raub, den erst der Westfälische Friede
sanktionierte. Die bei der Abtretung vorbehaltene
Wahrung der Reichsrechte war auch hier leere
Formel. Frankreich zog nachträglich sogar Ge-
biete ein, deren Zugehörigkeit zu Metz zweifelhaft
war. 1670 besetzte Ludwig XIV. mitten im
Frieden Lothringen, und Karl V. Leopold von
Lothringen, der berühmte kaiserliche General und
Türkenbesieger, forderte vergebens sein Erbe her-
aus; erst sein Nachfolger Leopold Josevh Karl
erhielt es im Frieden zu Ryswyk unter drückenden
Bedingungen zurück. Unter Franz Stephan IV.
nahm Frankreich 1733 das Land abermals in Besitz
und behielt es zufolge des Wiener Friedens von
1738 für den Schwiegervater Ludwigs XV.,
Stanislaus Leszczynski. Dieser überließ gegen
eine Jahresrente von zwei Mill. Francs die
Regierung an Frankreich, welches nach seinem
Tod (22. Febr. 1766) Lothringen feierlich seinem
Besitz einverleibte und in der nächsten Zeit durch
Verhandlungen und Tauschverträge die innern
Verhältnisse zu ordnen und die Grenzen abzu-
runden suchte. 1789 befanden sich noch sieben
Territorien im Besitz deutscher Herren; diese Ge-
biete wurden 1790 besetzt, und das Land bildete
die Departements der Maas, der Meurthe und
der Vogesen.
Seitdem die deutschen Reichsstände im Frieden
zu Luneville (1801) auf ihre linksrheinischen Ge-
biete verzichtet hatten, waren Elsaß und Lothringen
Provinzen Frankreichs und teilten von nun an
dessen Geschicke. Der Wiener Kongreß änderte an
dem Besitzstand nichts Wesentliches, und erst der
Frankfurter Friede (10. Mai 1871) gewann diese
altdeutschen Lande dem neuerstandenen Deutschen
Reich zurück. Neben nationalen Beweggründen
war hauptsächlich die strategische Rücksicht einer
größeren Sicherung der bisher gänzlich offenen
Südwestgrenze für die Rückforderung maßgebend.
Das wiedergewonnene Gut wurde zum „reichs-
unmittelbaren Land“ erklärt und der Bevölkerung
mancher materielle Vorteil gewährt, um ihr den
Übergang in die neuen Verhältnisse zu erleichtern.
So brauchte das Land keinen Anteil an der fran-
zösischen Kriegsentschädigung zu übernehmen, und
für die Lasten und Schäden, die der Krieg ver-
ursacht hatte, wurde möglichst Ersatz gewährt. Im
Interesse der Industrie wurde für die Reglung
der Zollverhältnisse eine Übergangszeit festgesetzt,
das französische Tabakmonopol beseitigt und an
der Besteuerung zunächst nichts geändert. Die
Bevölkerung zeigte jedoch wenig Entgegenkommen;
die Einführung der Diktatur für die Übergangs-
zeit bis 1874 (seitdem war das Land, bis 1879,
nach dem Muster einer preußischen Provinz unter
einem Oberpräsidenten organisiert), ferner die Ein-
führung der deutschen Wehrordnung und der
deutschen Sprache als Unterrichtssprache wurde
als besonders drückend empfunden. Auch die
Optionsfrage rief große Erregung hervor. Dem
Frankfurter Frieden gemäß verlangte die Reichs-
Elsaß-Lothringen.
1574
regierung von allen in Elsaß-Lothringen ge-
bornen oder wohnenden erwachsenen Personen,
daß sie sich bis zum 1. Okt. 1872 darüber er-
klären sollten, ob sie künftig dem deutschen oder
dem französischen Staat angehören wollten; wer
sich für Frankreich entscheide, solle seinen Wohn-
sitz dorthin verlegen. Da von 160 000 Optanten
nur 50 000 auswanderten, so behandelte die Re-
gierung die Zurückgebliebenen natürlich als
deutsche Untertanen. Die Absetzung der Bürger-
meister von Straßburg, Metz und Colmar, die
Schließung des bischöflichen Knabenseminars in
Straßburg, die Ausweisung der Ordensgeistlichen
vermehrten die Unzufriedenheit, die in den Wahlen
für die Gemeinde= und Bezirksräte wie auch für
den Reichstag zum Ausdruck kam. In den meisten
Gemeindekollegien verweigerten die „Protestler"
den Treueid; im Reichstag erschienen sie entweder
gar nicht oder lehnten jede positive Mitarbeit an
den elsaß-lothringischen Angelegenheiten ab. In
den nächsten Jahren machte sich jedoch eine Par-
teiströmung geltend, welche die Annexion des Ge-
biets als völkerrechtliche Tatsache anerkannte und
dem Land die Stellung eines möglichst selbstän-
digen Staats zu verschaffen suchte (Autonomisten).
Eine ruhigere Anschauung gewann die Oberhand;
gegenseitiges Entgegenkommen ermöglichte ein
immer mehr hervortretendes Zusammenwirken der
Landesvertretung und der Reichsgewalt und brachte
chließlich dem Land eine eigene Regierung.
Der erste Statthalter, der Generalfeldmarschall
Graf von Manteuffel (1879/85), eine vorsichtige,
versöhnliche Natur, suchte durch maßvolles Auf-
treten die mißtrauische Bevölkerung zu gewinnen.
Mit diesem Vorgehen waren aber die „altdeut-
schen“ (d. h. eingewanderten) Beamtenkreise nicht
zufrieden, und was der Statthalter durch sein
Entgegenkommen erreichte, verdarben die untern
Organe durch unnötige Schroffheit. Leider ver-
ließ Manteuffel seine Politik „der Versöhnung
und Schonung der Gefühle“" und versuchte es
mit schärferen Maßnahmen, so dem Verbot der
französischen Sprache im Landesausschuß. In-
folgedessen ging das schon Erreichte wieder ver-
loren, die seit den ersten Reichstagswahlen 1874
bestehende Gruppe der versöhnlichen Autonomisten
verschwand 1881 wieder und kehrte auch 1884
nicht zurück.
Als 1885 die Gemeinderatswahlen in deut-
schem Sinn ausfielen, erhielt Straßburg von dem
Nachfolger Manteuffels, dem Fürsten von Hohen-
lohe-Schillingsfürst (1885/94), wieder einenregel-
mäßigen Gemeinderat mit Bürgermeister. Die
Reichstagswahlen von 1887 ergaben jedoch wie-
der fast lauter Protestler, und die Regierung traf
daher eine Reihe zum Teil kleinlicher Maßregeln,
welche die Verschmelzung des Reichslands mit
Deutschland fördern sollten. Die Unzufriedenheit
in dem größeren Teil der Bevölkerung wuchs da-
durch, zumal sie von Frankreich aus geschürt
wurde. Zur Fernhaltung der französischen Agi-
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