Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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in bestimmten Zeiträumen nach Bedürfnis ge- 
wannweise unter Ausgleichung von Größe, Güte 
und Entfernung vom Wirtschaftshof unter die 
großjährigen männlichen Mitglieder der Ge- 
meinde neu eingeteilt. Die Söhne erhielten zu- 
meist den Anteil des verstorbenen Vaters wieder, 
einen Rechtsanspruch darauf, ein Erbrecht hatten 
sie nicht, denn der Nutzungsanteil eines Verstor- 
benen fiel an die Gemeinde zurück. Wald, Weide, 
Jagd und Fischerei blieb in gemeinschaftlicher 
Nutzung zu gleichen Anrechten. Die Oberaussicht 
über diese Gemeinheitswirtschaft führte der von 
der Gemeinde gewählte Vorsteher, der Starost. 
Auf dasselbe Prinzip der Assoziation war auch 
der Betrieb zahlreicher Handwerke fabrikmäßig 
geordnet. Die Acker der Krone wurden zu solcher 
gemeinsamen Nutzung gegen Rente übergeben; 
ebenso hatten die leibeigenen Bauerngemeinden 
für die Überlassung der Feldmark eine Geldab- 
gabe (obrok) an ihren Grundherrn zu entrichten. 
Waren sie dazu nicht imstande, dann konnte der 
Grundherr ein Vierteil oder ein Dritteil aus der 
Feldmark als herrschaftliches Wirtschaftsgut aus- 
scheiden, dessen Bestellung, Döngung, Aberntung 
dann aber wieder der Gemeinde unter Aussicht 
des Starosten verblieb, dem auch die Verwertung 
der Ernte im Weg des Verkaufs, wenn es ver- 
langt wurde, oblag. — In Polen und in den 
Ostseeprovinzen rxistierte diese Gemeinheits- 
wirtschaft nicht, es hatten vielmehr infolge der deut- 
schen Einwanderung manche Elemente deutscher 
und römischer Rechtsinstitutionen Eingang ge- 
funden; doch bildete sich ein scharfer, harter Unter- 
schied zwischen dem Adel und den Bauern und 
Hörigen aus. Solange in Polen die Erbmonarchie 
bestand, war diese im Bewußtsein ihres Berufs 
wie ihres Interesses bestrebt, die Selbständigkeit 
des Bauernstands gegen den Adel zu schützen. 
Noch 1520 erschien ein Gesetz, welches die Robot- 
dienste der Kron= wie der adligen Bauern auf ein 
leidlich günstiges Maß beschränkte. Mit dem 
Übergang des erblichen Königtums in ein Wahl- 
königtum aber erhob sich der Adel zu einer nach 
allen Seiten hin privilegierten Aristokratie, maßte 
sich die Patrimonialgerichtsbarkeit und Polizei 
in unumschränktester Weise an, machte die von 
der Krone bisher verliehenen Starosteien und 
Dienstgüter erblich und dehnte die Leibeigenschaft 
in ungebührlichster Weise aus, so daß in der letzten 
Hälfte des 16. Jahrh. beinahe vollständige Recht- 
losigkeit eintrat. Selbst gegen die nach deutschem 
Recht angesiedelten Kolonisten machte der Adel 
die Befugnis geltend, die Verträge und Urkunden, 
welche ihre Rechts-, Besitz-, Abgaben= und Dienst- 
verhältnisse fest bestimmten und regelten, beim 
Wechsel des Gutsherrn beliebig ändern zu dürfen. 
Mitdem Ende des 17. Jahrh. gewannen die Guts- 
herren eine geradezu souveräne Gewalt über ihre 
Hintersassen, die sogar ein Recht über Leben und 
Tod gab. Erst ein Traktat von 1768 bob dieses 
wieder auf, und die Konstitution von 1791 sank- 
  
Agrargesetzgebung, Agrarpolitik. 
  
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tionierte dann auch die Verträge zwischen den 
Gutsherren und Einsassen. Seit der Teilung 
Polens kann natürlich von einer einheitlichen pol- 
nischen Agrarverfassung nicht mehr die Rede sein, 
die Entwicklung der agrarischen Zustände nahm in 
den verschiedenen Staaten auch einen verschiedenen 
Weg. — In Rußland betrat schon Alexander 1. 
den Weg der Reform, indem er für die Ostsee- 
provinzen die Leibeigenschaft aufhob. Weil dabeie 
aber eine neue organische Reglung der Rechts-, 
Besitz= und Nutzungsverhältnisse unterblieb, so 
bewirkte diese Maßregel keine bemerkenswerte 
Veränderung. Nikolaus I. erkannte erst auf seinem 
Totenbett die Notwendigkeit, der Leibeigenschaft 
ein Ende und den gesamten Bauernstand frei zu 
machen. Alexander II. sprach dann durch Mani- 
fest vom 2. Dez. (20. Nov.) 1857 und 3. März 
(19. Febr.) 1861 die Aufhebung der Leibeigen- 
schaft förmlich aus. Die 22½—23 Millionen 
leibeigenen Bauern wurden für persönlich frei 
erklärt, und die Grundherren — 1170000 an der 
Zahl — mußten ihnen gegen ablösbaren Grund- 
zins Land abtreten. Die Ablösungssumme wurde 
dergestalt normiert, daß für je 6 Rubel Wert der 
bisherigen Leistung die Grundherren 100 Rubel 
erhielten. Hiervon zahlen die Leibeigenen ein 
Fünftel direkt an den Gutsherrn, wogegen sie 
für die übrigen vier Fünftel fünfprozentige, teils 
auf den Inhaber teils auf den Namen lautende 
und nur unter denselben Formen wie das Grund- 
eigentum selbst übertragbare, von der Regierung 
garantierte Zertifikate empfangen; die Leibeigenen 
haben dagegen zur Verzinsung und Tilgung 
49 Jahre hindurch jährlich 6 Prozent zu entrichten. 
Noch günstigere Bedingungen erhielten die aber 
auch in ungleich drückenderer Lage sich befindenden 
Leibeigenen in Polen. Hier haben mit dem Früh- 
jahr 1870 bereits alle Fronen und Obroks auf- 
gehört; auch die Bauern der Staatsdomänen, 
welche früher Erbpacht zahlten, und die Apanage- 
bauern, denen keine Fronen oblagen, sind durch 
Ukas vom 8. Juli 1863 in der Reihe der bäuer- 
lichen Landeigentümer getreten, indem sie den 
Kaufpreis ihres Landes ebenfalls in 49jährigen 
Quantitäten zu entrichten haben. Aus der Los- 
kaufsoperation waren bis zum 1. Jan. 1869 in 
Rußland und Polen schon 477096 972 Rubel 
in Darlehen und Vorschüssen gewährt worden. 
VII. Die moderne Agrarpolitik. Diese 
kurzen geschichtlichen Streiflichter lassen schon hin- 
reichend erkennen, wie der Grundbesitz seit den 
ersten Anfängen in der Entwicklung von Staat 
und Gesellschaft von größter Bedeutung gewesen 
ist. Seine Eigenschaft als Unterlage für die Er- 
nährung des Volkes ist dabei stets berücksichtigt 
worden. Anders freilich in den frühesten Zeiten 
des Überflusses an Grund und Boden im Ver- 
hältnis zu den Bedürfnissen der zu ernährenden 
Bevölkerung, anders in späteren Zeiten, wo der 
Grundbesitz ein beschränkter wurde, immerhin aber 
bei der nicht zu dichten Bevölkerung noch einen
	        
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