Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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erheblichen Uberschuß an Nahrungsmitteln hervor- 
brachte und zur Abgabe an andere Völker und 
Staaten, in welchen die Verhältnisse schon noch 
engere geworden waren, Verwendung finden konnte, 
anders endlich in der neueren und neuesten Zeit, 
wo man in einem Teil der alten Kulturstaaten 
einer mehr oder minder erheblichen Zufuhr aus 
dem Ausland bedarf, um die Volksernährung zu 
sichern. Dies die eine Seite der Bedeutung des 
Grundbesitzes. Dieser war aber auch in den frü- 
heren Zeiten fast der einzige Richtfaden, wie der- 
selbe bis in die Gegenwart, begünstigt durch 
seinen monopolartigen Charakter, die bedeutsamste 
Grundlage des gefestigten Reichtums bildet. Reich- 
tum aber gab und gibt Macht. Wie in den äl- 
testen Zeiten bei der Zuteilung des Grund und 
Bodens bei den deutschen Stämmen die Macht- 
stellung des einzelnen für den Umfang bestim- 
mend war, so erwuchs wiederum aus dem ver- 
mehrten Grundbesitz die Macht des einzelnen im 
Volk. Die Steigerung der Anforderungen an 
den Grundbesitz, namentlich für die Heeresfolge, 
führte dazu, daß nur ein schon erheblicher Grund- 
besitz zu den Leistungen befähigte. Dieser Umstand 
wurde die Ursache, daß der kleine Besitz sich in 
gewisse Abhängigkeitsverhältnisse zum Großgrund- 
besitz begab, wogegen der letztere die Lasten über- 
nahm. Der Großgrundbesitz wird sodann eine 
der Unterlagen zur Entwicklung des Landes- 
fürstentums sowie der kleineren grundherrlichen 
Machtgebiete, welche dann allerdings durch den 
Stand der neueren Zeit ihrer unabhängigen, nach 
unten hin herrschenden politischen Selbständigkeit 
entkleidet werden, immerhin aber noch eine haupt- 
sächlich aus dem Grundbesitz herzuleitende bevor- 
zugte Stellung im politischen und gesellschaftlichen 
Leben behaupten. So sucht denn auch der im Er- 
werbsleben entstandene Kapitalreichtum durch 
Ankauf von Grundbesitz sein Ansehen noch zu 
heben. Auch der kleinere und mittlere Grundbesitz 
bildet fast durchgehends noch eine der Voraus- 
setzungen zu der stimmberechtigten Teilnahme an 
dem Leben in den größeren und kleineren Ge- 
meindeverbänden, wenn auch nicht mehr am eigent- 
lichen Staatsorganismus. Man wird also nicht 
übersehen dürfen, daß, wenn auch der Grundbesitz 
in der wirtschaftlichen Entwicklung mehr und 
mehr zum landwirtschaftlichen Gewerbe geworden 
ist und dazu werden mußte, wenn er sich wirt- 
schaftlich erhalten wollte, derselbe doch auch den 
Stempel eines Standes trägt, bei welchem 
es darauf ankommt, nicht nur die Mittel zum ge- 
deihlichen Wirtschaften zu haben, sondern auch die 
auf einer gewissen Überlieferung der besitzenden 
Familien beruhenden Anschauungen und Gesin- 
nungen zu pflegen und zum Gemeinwohl zu er- 
halten und zu fördern. Der Staat hat ein großes 
Interesse an dieser Erhaltung, selbst auch im Hin- 
blick auf die namentlich für die Verteidigung des 
Vaterlandes notwendigen körperlichen Eigenschaften 
der ackerbautreibenden Bevölkerung. Dabei ist 
Agrargesetzgebung, Agrarpolitik. 
  
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es aber durchaus von allergrößtem Wert, daß die 
Besitzverhältnisse in gesunder Weise zwischen Groß- 
grundbesitz, mittlerem Besitz, als dem Grundstock, 
und kleinerem Besitz verteilt sind. Diese Gruppen 
haben verschiedenartige Bedeutung für Staat und 
Gesellschaft. Der Schwerpunkt muß in dem mitt- 
leren Besitz gesucht werden, bei welchem die vom 
Besitzer selbst bewirtschaftete Scholle ihn und seine 
Familie ernährt und zum unabhängigen Mann 
macht — ein Ideal, welches freilich wohl nie voll- 
kommen erreicht werden wird, welches aber allen 
denjenigen vor Augen schweben muß, welche, sei 
es als Landwirte, sei es als Vertreter von Staat 
und Gemeinden, berufen sind, an der Erreichung 
mitzuarbeiten. Alle die Maßregeln, Vorkehrungen, 
Bestrebungen, welche auf dieses für die Erhaltung 
von Staat und Gesellschaft bis zur Bedeutung 
einer Lebensfrage für dieselben gesteckte Ziel aus- 
gedacht bzw. eingeführt werden, sei es durch Ge- 
setzgebung, Verwaltung, freiwillige Tätigkeit, um- 
fassen in ihrer Gesamtheit die Agrarpolitik. Je 
nach den Krankheitserscheinungen des Agrarwesens 
herrscht bald die eine bald die andere Richtung 
vor, wie sich schon aus der vorangeschickten ge- 
schichtlichen Darstellung ergibt. 
Wenn seit der Mitte des 18. Jahrh. bis zur 
Mitte des 19. Jahrh. die Hauptrichtung fast 
allenthalben dahin ging, durch die Gesetzgebung 
freien Besitz, freie Bewegung des Eigentums zu 
schaffen, so war dies die Folge der früheren ge- 
bundenen Zustände, welche in der Tat die Ent- 
wicklung gesunder gesellschaftlicher Verhältnisse des 
Grundbesitzes ebenso verhinderten wie die Ent- 
faltung der Kräfte im landwirtschaftlichen Be- 
trieb. Daß diese Zustände geändert wurden, war 
eine Lebensfrage für das wirtschaftliche und poli- 
tische Gedeihen des Staats. Noch aber war kein 
halbes Jahrhundert seit der allgemeinen Durch- 
führung der freiheitlichen Einrichtungen verflossen, 
als die Eigentümlichkeit des Grundbesitzes und seine 
Bedeutung im Staatsleben darauf hinwiesen, daß 
die rücksichtslose Durchführung doch auf die Dauer 
mit schweren Bedenken belastet sei, und ohne zu 
den alten gebundenen Zuständen zurückzukehren, 
suchte man Einrichtungen zu schaffen, welche die 
gesetzliche Möglichkeit herbeiführten, daß Grund- 
besitzer für sich und ihre Familien der unbegrenzten 
Freiheit der Bewegung des Grundbesitzes freiwillig 
Schranken setzen können, und zwar hauptsächlich 
durch Reglung des Erbrechts. Der Staat ebenso 
wie der Bauernstand selbst sehen mit Besorgnis 
der stets sich verstärkenden Abbröcklung des Grund- 
besitzes entgegen, durch welche an Stelle des 
selbständigen Bauern nach und nach Taglöhner= 
familien treten. Daher die Gesetze in Preußen 
und anderwärts über das Anerbenrecht (s. d. Art.), 
über Landgüterordnung. Wenn die Gesetzgebung 
in dieser Richtung die Verhinderung der Auswüchse 
ermöglicht, so besteht in einer andern Richtung die 
Gefahr, daß der Großgrundbesitz, wo er kapital- 
kräftig ist, den kleinen in sich aufnimmt. Dies
	        
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