Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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das Aussehen einer englischen Kolonie, belebte da- 
mit aber wiederum die nationalistische Bewegung, 
welche ein neuer, aber klügerer und besonnenerer 
Arabi Pascha, nämlich Mustafa Kamel Pascha, 
führte. Der Türkei gegenüber trumpfte England 
als Vormund Agyptens in der Akabafrage auf, 
nicht etwa in Vertretung ägyptischer Interessen, 
sondern lediglich im Hinblick auf den Seeweg 
nach Indien, den es nicht durch die Türkei von 
Akaba her kontrollieren lassen wollte. Auch Frank- 
reich mußte alsbald spüren, was sein Verzicht auf 
eine ägyptische Politik bedeute; die Beamten- 
ernennungen und die Behandlung der französischen 
Rechtsschule in Kairo gehören zu diesen unange- 
nehmen Erfahrungen, die aber auch nur bestätigen, 
wie sehr sich England als selbständiger Disponent 
in Agypten fühlt. Dabei wird immer eine ge- 
wisse Form gewahrt, die den Schein staatlichen 
Eigendaseins für Agypten rettet; aber zu einer inter- 
nationalen Geltung läßt England dieses Eigen- 
dasein nicht kommen. 
Bemerkenswert ist die Stellung, die England im 
ägyptischen Sudan beansprucht. Der Türkei 
gegenüber ist Agypten rechtlich nach wie vor ein 
Vasallenstaat; als solcher kann es mit einer andern 
Macht keinen völkerrechtlich gültigen Staatsvertrag 
über einen Gebietsteil schließen, der, wenn auch 
zeitweilig durch einen Aufstand verloren gegangen, 
für die Türkei doch nach wie vor als Vasallen- 
gebiet gilt. England hat nun mit der ägyptischen 
Regierung — selbstverständlich nur der Form hal- 
ber — am 19. Jan. 1904 ein Abkommen ge- 
troffen, wonach der gemeinsam wieder eroberte 
Sudan von Agypten und England gemeinsam 
regiert wird. Der Khedive ernennt im Einver- 
nehmen mit England den Generalgouverneur, 
der die gesetzgebende, richterliche und exekutive 
Gewalt in sich vereinigt. Der Sitz der Sudan- 
regierung ist in Kairo; dort besteht ein Sudan- 
departement unter englischer Leitung. Dieser eng- 
lisch-ägyptische Vertrag ist, weil ohne die Türkei 
geschlossen, völkerrechtlich nicht gültig; er wird aber 
faktisch anerkannt, wie z. B. durch Italien und 
Griechenland, die im Sudan für die Errichtung je 
eines Konsulats die Genehmigung Englands ein- 
holten. Der Sudan wird im Umfang auf 2470000 
dkm geschätzt; davon ist etwa ½/ % bis jetzt in 
Bewirtschaftung. Die Bevölkerung wird auf an- 
nähernd 2 Millionen angegeben, darunter 3000 
Europäer und 10 000 sonstige Nichtsudanesen. 
Auf Waren aus dem Ausland werden im Sudan 
Eingangszölle erhoben, auch wenn sie bereits in 
Agypten mit Zoll belegt wurden; Agypten selbst 
gilt nicht als Ausland. Als Hafen des Sudans 
am Roten Meer wurde 1905 Port Sudan an- 
gelegt, der auch schon einen großen Teil des Außen- 
handels an sich gezogen hat, nebenbei England 
auch als wertvolle Kohlenstation dient. Port 
Sudan steht mit Berber an der Bahn Wadihalfa- 
Chartum in Eisenbahnverbindung. (Das nahe 
Suakin erkennt England als lediglich ägyptischer 
Agypten. 
  
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Hoheit unterstehend an; es läßt für dort auch ge- 
mischte Gerichte zu, wie seit 1876 für Agypten.) 
Von Chartum südwärts ist der weitere Aufschluß 
des Landes durch Eisenbahnen geplant, von denen 
die dem Weißen Nil folgende ein Stück der Kap- 
Kairobahn ausmachen wird. Vorläufig beschränkt 
sich der regelmäßige Verkehr auf die monatlich 
einmal von Chartum nach Uganda fahrenden 
Regierungsdampfer (25—28 Tage Fahrzeit) und 
die wöchentlich eine kürzere Strecke abfahrenden 
Dampfer der Sudan Development and Explo- 
ration Company. Im Budget für den Sudan 
waren vorgesehen für 1906 in Einnahmen 6217943, 
in Ausgaben 1.001 706 ägyptische Pfund. 
2. Land und Leute. Agypten im eigentlichen 
Sinn ist das Talgebiet des Nils vom ersten Nil- 
katarakt bei Assuan (24°% 30“ nördl. Br.) bis zum 
Mittelländischen Meer. Das heute im politischen 
Sinn Agypten genannte Gebiet reicht nach den 
Aufständen des Mahdi nilaufwärts noch bis 
Dongola, begreift außer dem Niltal und Nildelta 
die Landenge von Sues, ein Stück des südlichen 
Syriens, die Bezirke von Kosseir und Suakin am 
Roten Meer und eine Reihe von Oasen der Liby- 
schen Wüste. Das heutige Agypten zerfällt in 
Oberägypten von Wadihalfa bis zur Teilung des 
Nils oberhalb der Hauptstadt Kairo, das „glück- 
liche Land“, und Unterägypten, das „Meeresland“. 
Die Gesamtfläche Agyptens beträgt 994 300 qkm, 
davon etwa 33607 qkm bebautes Land. Die 
Bevölkerungszahl betrug laut der letzten 
Zählung vom 1. Juni 1897, die heute (1908) 
nur mehr annähernd stimmt: 9 821 045, davon 
4831 037 weiblich. Der Nationalität nach 
waren 9 621 831 Agypter, 112•574 Fremde: 
Griechen 38 208, Italiener 21 457, Briten 
19 560, Franzosen 14 172, Osterreicher 7115, 
Russen 3192, Deutsche 1281. Der Religion 
nach: 8977702 Mohammedaner, 731235 Chri- 
sten (davon 61051 Katholiken, 24409 Protestan- 
ten), 25 200 Israeliten. 
Die 1897 ebenfalls vorgenommene Berufs- 
zählung ergab folgende Verteilung der Ein- 
wohnerschaft: 
  
  
  
Berufe Männlich Weiblich 
Ackerbau 2049 643 — 
Industrie 244 612 9343 
Hande..170304 7988 
Beamte, Geistliche, freie 
Berufe 234 623 7 497 
Dienstboten 113377 35 346 
Verschiedene Berufsarten 248 168 10 997 
Militär 36 051 — 
Ohne Beruf. 1771 072 4 715 384 
Die Bodenkultur in Agypten hat erst der Nil 
möglich gemacht. Für Regelmäßigkeit und Er- 
giebigkeit der Ernten ist die jährliche Nilüber- 
schwemmung von grundlegender Bedeutung. Zur 
Reglung der Überschwemmung wurde oberhalb 
der Hauptstadt ein riesiges Stauwerk angelegt;
	        
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