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pflichtende Kraft erlangt und ihre Geltung be-
hauptet, obwohl sie auf Vorschriften der Staats-
gewalt beruhten. Dem Prinzip der Kirche würde
es vollkommen entsprechen, daf alle kirchlichen Be-
ziehungen durch Normen geregelt wären, welche
von der kirchlichen gesetzgebenden Autorität auf-
gestellt oder innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft
gewohnheitsrechtlich entstanden sind. Dieser
Grundsatz wurde jedoch, seit die rechtliche Existenz
der Kirche die staatliche Anerkennung erhalten
hatte und die Kirche zum Staate in Beziehung
trat, durchbrochen. Die Kirche ließ wohl die An-
wendung staatlicher Vorschriften über kirchliche
Verhältnisse zu, wenigstens wenn diese die Auf-
gaben der Kirche förderten und mit den wesent-
lichen Grundlagen ihrer Rechtsordnung vereinbar
waren, ohne jedoch formell die staatliche Gesetz-
gebung als Quelle des Kirchenrechts anzuerkennen.
Solche staatliche Vorschriften können regelmäßig
nur partikuläres Kirchenrecht schaffen. Die Kirche
als solche ist ja dem Machtbereiche des einzelnen
Staates nicht unterworfen; der einzelne Staat
kann nur die Institute und Glieder der Kirche,
welche seinem Gebiete angehören, zur Beobachtung
bestimmter Normen verpflichten. Wenn das
römische Recht im kirchlichen Forum als subsi-
diäres Recht für die ganze Kirche anerkannt war,
so erklärt sich diese Ausnahme aus der besondern
Bedeutung des römischen Rechts für Kirche und
Kaisertum im Mittelalter. Man hielt jedoch in
der Kirche immer den Grundsatz fest, daß diese an
das römische Recht nicht gebunden sei, daß es sich
für die Kirche nicht um eine notwendige, sondern
um eine freie Rezeption handle, welche das rö-
mische Recht heranzieht, soweit es den Kanones
nicht widerspricht. ·
Weltliche Gesetze, welche sich als geltende
Normen für die Beurteilung kirchlicher Verhält-
nisse behauptet haben, können also nach ihrem In-
halte als „Kirchenrecht“ bezeichnet werden, wäh-
rend das Gebiet des kanonischen Rechts auch im
weitesten Sinne nur Rechtssätze umfaßt, deren
verbindliche Kraft auf kirchlicher Rechtssatzung be-
ruht. (Die sog. lex canonizata kann nicht als
wirkliche Ausnahme bezeichnet werden. Sobald
der kirchliche Gesetzgeber den Satz des weltlichen
Rechts ausdrücklich anerkannt und als Kirchengesetz,
canon, kundgemacht hat, kommt der weltliche Ur-
sprung einer solchen Rechtsnorm formell nicht weiter
in Frage. Das weltliche Recht ist dann wohl die
materielle Quelle des Kirchengesetzes, d. h. die
Quelle des Inhalts, welcher dem Kanon gegeben
wurde; die formelle äußere Geltung, die verpflich-
tende Kraft des Rechtssatzes beruht jedoch allein
auf der Anordnung des kirchlichen Gesetzgebers.)
Ursprung und Zweck der Kirche und des Be-
standes ihrer Rechtsordnung erklären den Sprach-
gebrauch, welcher das Kirchenrecht als ius Sacrum
bezeichnet. Der Name ius pontificium charak-
terisiert das geistliche Recht ebenso als das Recht
des Papstes, dessen gesetzgebende Autorität das die
Kirchenrecht.
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kirchliche Rechtseinheit begründende Dekretalen-
recht geschaffen hat, wie der Ausdruck ius Caesa-
reum (im älteren Sprachgebrauch: jura Cae-
saris, leges s. lex imperatorum) für ius ci-
vile das weltliche (römische) Recht als das Recht
des Kaisers und als das Gesetz seiner Vorfahren
bezeichnet, welchem im Reiche der Nachfolger der
römischen Imperatoren, in der ganzen Christen-
heit, Geltung zukommen soll. Seit der Refor-
mation erhielt jedoch der Ausdruck ius pontifl-
cium, soweit sich die protestantische Polemik des-
selben bediente, eine tendenziöse Spitze gegenüber
dem Standpunkte der katholischen Kirche; es wird
die Rechtsordnung derselben jus pontificium,
ihre Anhänger werden pontificü genannt, um
sich vom Boden der protestantischen Auffassung
dagegen zu verwahren, daß Kirche und römische
Kirche identifiziert, daß der dogmatische Stand-
punkt der römisch-katholischen Kirche anerkannt
werde, es könne nur diese allein den Anspruch er-
heben, Trägerin des Kanon und der Katholizität
der vorreformatorischen Kirche zu sein.
Nach dem Dogma der katholischen Kirche
(vgl. Concil. Trid. sess. VI, can. 19, 21) hat
Christus nicht nur eine Heilslehre, sondern auch
die Grundlagen der kirchlichen Rechtsordnung ge-
offenbart. Der Inbegriff dieser fundamentalen
Rechtssätze, welche das unfehlbare kirchliche Lehr-
amt als unwandelbare, auf der Anordnung des
göttlichen Stifters beruhende Normen erklärt,
wird als ius divinunm bezeichnet. Dieses stellt
die wesentliche und unverrückbare Grundlage der
kirchlichen Rechtsordnung dar, welche sich als ein
Postulat des vom Stifter geoffenbarten Dogmas
ebenso wie der Glaube, in dem sie wurzelt, jeder
Anderung durch menschliche Autorität entzieht.
Den Gegensatz dieses vom Stifter geoffenbarten
ius divinum bildet das ius humanum, welches
die Gesamtheit aller kirchlichen Rechteanormen um-
faßt, die nicht auf die Anordnung Christi zurück-
zuführen sind — diese mögen in der kirchlichen
Gemeinschaft gewohnheitsrechtlich entstanden oder
von den gesetzgebenden Autoritäten, welche die von
Christus in der Kirche angeordnete Verfassung
zur Gesetzgebung berufen hat, erlassen worden
sein. (Duaecumque sunt instituta per eccle-
siam vel per ecclesiae praelatos dicun-
tur esse iuris humani: Thomas von Aquin.)
Auch jene Rechtssätze, welche die Kirche auf die
Anordnung der Apostel zurückführt, welche jedoch
das unfehlbare kirchliche Lehramt nicht als vom
Stifter geoffenbarte Rechtsnormen erklärt, sind
als jus apostolicum doch immer nur Bestand-
teile des ius humanum. Diese Rechtssätze sind
trotz ihres Alters und des Ansehens ihrer Urheber
der Anderung durch die kirchliche Autorität (wenig-
stens prinzipiell) ebenso unterworfen wie das
menschliche Recht der Kirche überhaupt, dessen
Entwicklungsfähigkeit nur in den Sätzen des jus
divinum ihre unverrückbare Schranke findet. Als
Quelle dieses ius divinum kann der Jurist nur