Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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pflichtende Kraft erlangt und ihre Geltung be- 
hauptet, obwohl sie auf Vorschriften der Staats- 
gewalt beruhten. Dem Prinzip der Kirche würde 
es vollkommen entsprechen, daf alle kirchlichen Be- 
ziehungen durch Normen geregelt wären, welche 
von der kirchlichen gesetzgebenden Autorität auf- 
gestellt oder innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft 
gewohnheitsrechtlich entstanden sind. Dieser 
Grundsatz wurde jedoch, seit die rechtliche Existenz 
der Kirche die staatliche Anerkennung erhalten 
hatte und die Kirche zum Staate in Beziehung 
trat, durchbrochen. Die Kirche ließ wohl die An- 
wendung staatlicher Vorschriften über kirchliche 
Verhältnisse zu, wenigstens wenn diese die Auf- 
gaben der Kirche förderten und mit den wesent- 
lichen Grundlagen ihrer Rechtsordnung vereinbar 
waren, ohne jedoch formell die staatliche Gesetz- 
gebung als Quelle des Kirchenrechts anzuerkennen. 
Solche staatliche Vorschriften können regelmäßig 
nur partikuläres Kirchenrecht schaffen. Die Kirche 
als solche ist ja dem Machtbereiche des einzelnen 
Staates nicht unterworfen; der einzelne Staat 
kann nur die Institute und Glieder der Kirche, 
welche seinem Gebiete angehören, zur Beobachtung 
bestimmter Normen verpflichten. Wenn das 
römische Recht im kirchlichen Forum als subsi- 
diäres Recht für die ganze Kirche anerkannt war, 
so erklärt sich diese Ausnahme aus der besondern 
Bedeutung des römischen Rechts für Kirche und 
Kaisertum im Mittelalter. Man hielt jedoch in 
der Kirche immer den Grundsatz fest, daß diese an 
das römische Recht nicht gebunden sei, daß es sich 
für die Kirche nicht um eine notwendige, sondern 
um eine freie Rezeption handle, welche das rö- 
mische Recht heranzieht, soweit es den Kanones 
nicht widerspricht. · 
Weltliche Gesetze, welche sich als geltende 
Normen für die Beurteilung kirchlicher Verhält- 
nisse behauptet haben, können also nach ihrem In- 
halte als „Kirchenrecht“ bezeichnet werden, wäh- 
rend das Gebiet des kanonischen Rechts auch im 
weitesten Sinne nur Rechtssätze umfaßt, deren 
verbindliche Kraft auf kirchlicher Rechtssatzung be- 
ruht. (Die sog. lex canonizata kann nicht als 
wirkliche Ausnahme bezeichnet werden. Sobald 
der kirchliche Gesetzgeber den Satz des weltlichen 
Rechts ausdrücklich anerkannt und als Kirchengesetz, 
canon, kundgemacht hat, kommt der weltliche Ur- 
sprung einer solchen Rechtsnorm formell nicht weiter 
in Frage. Das weltliche Recht ist dann wohl die 
materielle Quelle des Kirchengesetzes, d. h. die 
Quelle des Inhalts, welcher dem Kanon gegeben 
wurde; die formelle äußere Geltung, die verpflich- 
tende Kraft des Rechtssatzes beruht jedoch allein 
auf der Anordnung des kirchlichen Gesetzgebers.) 
Ursprung und Zweck der Kirche und des Be- 
standes ihrer Rechtsordnung erklären den Sprach- 
gebrauch, welcher das Kirchenrecht als ius Sacrum 
bezeichnet. Der Name ius pontificium charak- 
terisiert das geistliche Recht ebenso als das Recht 
des Papstes, dessen gesetzgebende Autorität das die 
Kirchenrecht. 
  
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kirchliche Rechtseinheit begründende Dekretalen- 
recht geschaffen hat, wie der Ausdruck ius Caesa- 
reum (im älteren Sprachgebrauch: jura Cae- 
saris, leges s. lex imperatorum) für ius ci- 
vile das weltliche (römische) Recht als das Recht 
des Kaisers und als das Gesetz seiner Vorfahren 
bezeichnet, welchem im Reiche der Nachfolger der 
römischen Imperatoren, in der ganzen Christen- 
heit, Geltung zukommen soll. Seit der Refor- 
mation erhielt jedoch der Ausdruck ius pontifl- 
cium, soweit sich die protestantische Polemik des- 
selben bediente, eine tendenziöse Spitze gegenüber 
dem Standpunkte der katholischen Kirche; es wird 
die Rechtsordnung derselben jus pontificium, 
ihre Anhänger werden pontificü genannt, um 
sich vom Boden der protestantischen Auffassung 
dagegen zu verwahren, daß Kirche und römische 
Kirche identifiziert, daß der dogmatische Stand- 
punkt der römisch-katholischen Kirche anerkannt 
werde, es könne nur diese allein den Anspruch er- 
heben, Trägerin des Kanon und der Katholizität 
der vorreformatorischen Kirche zu sein. 
Nach dem Dogma der katholischen Kirche 
(vgl. Concil. Trid. sess. VI, can. 19, 21) hat 
Christus nicht nur eine Heilslehre, sondern auch 
die Grundlagen der kirchlichen Rechtsordnung ge- 
offenbart. Der Inbegriff dieser fundamentalen 
Rechtssätze, welche das unfehlbare kirchliche Lehr- 
amt als unwandelbare, auf der Anordnung des 
göttlichen Stifters beruhende Normen erklärt, 
wird als ius divinunm bezeichnet. Dieses stellt 
die wesentliche und unverrückbare Grundlage der 
kirchlichen Rechtsordnung dar, welche sich als ein 
Postulat des vom Stifter geoffenbarten Dogmas 
ebenso wie der Glaube, in dem sie wurzelt, jeder 
Anderung durch menschliche Autorität entzieht. 
Den Gegensatz dieses vom Stifter geoffenbarten 
ius divinum bildet das ius humanum, welches 
die Gesamtheit aller kirchlichen Rechteanormen um- 
faßt, die nicht auf die Anordnung Christi zurück- 
zuführen sind — diese mögen in der kirchlichen 
Gemeinschaft gewohnheitsrechtlich entstanden oder 
von den gesetzgebenden Autoritäten, welche die von 
Christus in der Kirche angeordnete Verfassung 
zur Gesetzgebung berufen hat, erlassen worden 
sein. (Duaecumque sunt instituta per eccle- 
siam vel per ecclesiae praelatos dicun- 
tur esse iuris humani: Thomas von Aquin.) 
Auch jene Rechtssätze, welche die Kirche auf die 
Anordnung der Apostel zurückführt, welche jedoch 
das unfehlbare kirchliche Lehramt nicht als vom 
Stifter geoffenbarte Rechtsnormen erklärt, sind 
als jus apostolicum doch immer nur Bestand- 
teile des ius humanum. Diese Rechtssätze sind 
trotz ihres Alters und des Ansehens ihrer Urheber 
der Anderung durch die kirchliche Autorität (wenig- 
stens prinzipiell) ebenso unterworfen wie das 
menschliche Recht der Kirche überhaupt, dessen 
Entwicklungsfähigkeit nur in den Sätzen des jus 
divinum ihre unverrückbare Schranke findet. Als 
Quelle dieses ius divinum kann der Jurist nur
	        
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