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die immerwährende kirchliche Lehrverkündigung
und die Glaubensgesetze der Kirche (d. h. die Ent-
scheidungen des unfehlbaren kirchlichen Lehramtes)
bezeichnen; indem die kirchliche Autorität, d. h. das
unfehlbare Organ des kirchlichen Lehramtes, den
geoffenbarten Lehrbegriff, den Inhalt des Dog-
mas, definiert, entscheidet sie zugleich die Frage,
welche fundamentalen Rechtsnormen der Kirche
nach dem Zeugnisse der Heiligen Schrift und der
göttlichen Uberlieferung auf der Anordnung Christi
beruhen, also juris divini sind.
Die herkömmliche Darstellung, welche die Hei-
lige Schrift und die Tradition als Quellen des
ius divinum bezeichnet, übersieht (ähnlich wie die
bekannte Auffassung, welche die Volksüberzeugung
bzw. die gemeinsame Überzeugung der Genossen
einer Rechtsgemeinschaft als Rechtsquelle erklären
zu dürfen glaubte), daß die sog. „Quelle“ des
Inhaltes der Rechtssätze, aus der wir die mate-
rielle Bildung, den Ursprung des Inhaltes der
Rechtssätze erklären, nicht identisch ist mit der
Rechtsquelle im technischen Sinne, dem Ent-
stehungsgrunde des objektiven Rechts, der Quelle
seiner formellen Geltung und Verbindlichkeit.
Unter der Rechtsquelle versteht man den Faktor,
welcher dem Rechtssatze seine verpflichtende Kraft
verleiht, welcher dessen formelle äußere Geltung
begründet. Die Heilige Schrift und die Tradi-
tion sind jene Erkenntnisquellen des geoffenbar-
ten Dogmas, auf Grund deren das unfehlbare
kirchliche Lehramt den Lehrbegriff entwickelt und
definiert hat. Sie sind jedoch an sich nicht
Rechtsquellen; die äußere formelle Geltung und
verpflichtende Kraft des ius divinum wurzelt
vielmehr einzig und allein in der Anerkennung
desselben durch die kirchliche Lehrautorität, in den
Glaubensnormen, welche das unfehlbare kirchliche
Lehramt festgestellt hat. Diesem allein steht die
Entscheidung zu, welche fundamentalen Rechtssätze
auf der Anordnung Christi beruhen. Bibel und
Tradition sind nicht Rechtsquellen; darüber, ob
ein Rechtssatz in der Bibel oder der Tradition
als göttliche Ordnung bezeugt ist, steht nur dem
kirchlichen Lehramte das Urteil zu. Für den Ju-
risten ist einzig und allein der Ausspruch der kirch-
lichen Lehrautorität, maßgebend. Die Annahme
eines göttlichen Rechts hat deshalb die Existenz
eines unfehlbaren Organes des kirchlichen Lehr-
amtes zur wesentlichen Voraussetzung; sonst gibt
es überhaupt kein leitendes Prinzip für die Ent-
scheidung, welche der biblischen Vorschriften ab-
solute und fundamentale sind.
Wenn hervorragende Vertreter der deutschen
kanonistischen Wissenschaft das ius divinum als
ius naturale bezeichnet haben (Schulte, Die
Lehre von den Quellen des katholischen Kirchen-
rechts 47; Hinschius, System des katholischen
Kirchenrechts III 771), so soll damit nicht etwa
geleugnet werden, daß, wie alles Recht, auch das
ius divinum ein positives Recht ist; die Grund-
lagen der kirchlichen Rechtsordnung werden viel-
Kirchenrecht.
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mehr nur deshalb von diesen Juristen ius natu-
rale genannt, weil dieselben als unabweisliche
Konsequenzen des kirchlichen Lehrbegriffes er-
cheinen. Diese moderne Auffassung, welcher nur
das geoffenbarte ius divinum als ius naturale
gilt, ist der älteren Schule ebenso fremd, wie
jenen theologischen Autoren, welche auch heute
noch auf die ethischen Voraussetzungen der Rechts-
ordnung Begriff und Namen des Rechts über-
tragen und die Forderungen des göttlichen Sitten-
gesetzes an das Recht, also die ethische Qualifikation
der Rechtsordnung, als ein durch die Vernunft er-
kennbares, ewig wahres „Naturrecht“ behandeln.
Die Epoche des Rationalismus, welchem
die Vernunft nicht nur Mittel und Organ, son-
dern alleinige Quelle wahrhafter Erkenntnis ist,
versuchte auch die Begründung eines „natürlichen
Kirchenrechts“, dessen Sätze in ihrer angeblichen
Vernunftnotwendigkeit ihre Rechtfertigung finden
und als absoluter, idealer Maßstab für die Be-
urteilung des positiven Rechts gelten sollen. Diese
Versuche verfolgen ein chimärisches Problem; der
Begriff der Kirche, die Grundlagen ihrer Rechts-
ordnung stehen uns nach katholischer Lehre nicht
als ein Werk freier menschlicher Rechtsbildung,
nicht als Schöpfungen des Menschengeistes und
seiner Vernunft, sondern als positive göttliche
Institution gegenüber. Es ist deshalb ein ver-
kehrtes Beginnen, eine Kirche und eine vermeint-
lich vernunftnotwendige Rechtsordnung derselben
a priori auf dem Wege der Spekulation zu kon-
struieren, „weil ohne jene positive Grundlage“
(den geoffenbarten Willen des göttlichen Stifters)
„nicht einmal der nur rein positive Begriff der
Kirche existieren könnte“ (Schulte). Die Versuche,
„aus vernünftigen Prinzipien“ das System eines
natürlichen Kirchenrechts zu entwickeln, ein Nor-
malrecht aufzustellen, „nach welchem das rezipierte
Recht jeder Kirche verbessert und berichtigt werden
muß“ (s. z. B. Steger, Versuch eines natürlichen
Kirchenrechts /17991 1x, 7), sind nur das Er-
gebnis einer Kritik des Positiven, bei welcher das
subjektive Rechtsgefühl den Anspruch erhebt, als
das Orakel des ewig Vernünftigen zu gelten.
Was dem individuellen Parteistandpunkt ent-
spricht, wird da a priori als richtig und „ver-
nunftnotwendig“ demonstriert; diese angeblichen
Postulate der Vernunft, welche in Wahrheit gar
nicht auf rein spekulativem Wege gewonnen wur-
den, sollen nicht bloß als absoluter Maßstab des
Werturteils über das Positive und Historische
gelten, in welchem wir das Vermächtnis der Weis-
heit und Erfahrung der dahingegangenen Gene-
rationen erblicken; sie sind auch das „rationale“
Fundament einer Kritik, welche prüft, ob die ge-
offenbarten Grundlagen der kirchlichen Rechts-
ordnung mit den Forderungen des vermeintlichen
Vernunftrechts im Einklange sind.
Während in der deutschen Rechtswissenschaft
diese Theorien eines „natürlichen Kirchenrechts“
längst aufgegeben sind, glauben jene Theologen
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