Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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die immerwährende kirchliche Lehrverkündigung 
und die Glaubensgesetze der Kirche (d. h. die Ent- 
scheidungen des unfehlbaren kirchlichen Lehramtes) 
bezeichnen; indem die kirchliche Autorität, d. h. das 
unfehlbare Organ des kirchlichen Lehramtes, den 
geoffenbarten Lehrbegriff, den Inhalt des Dog- 
mas, definiert, entscheidet sie zugleich die Frage, 
welche fundamentalen Rechtsnormen der Kirche 
nach dem Zeugnisse der Heiligen Schrift und der 
göttlichen Uberlieferung auf der Anordnung Christi 
beruhen, also juris divini sind. 
Die herkömmliche Darstellung, welche die Hei- 
lige Schrift und die Tradition als Quellen des 
ius divinum bezeichnet, übersieht (ähnlich wie die 
bekannte Auffassung, welche die Volksüberzeugung 
bzw. die gemeinsame Überzeugung der Genossen 
einer Rechtsgemeinschaft als Rechtsquelle erklären 
zu dürfen glaubte), daß die sog. „Quelle“ des 
Inhaltes der Rechtssätze, aus der wir die mate- 
rielle Bildung, den Ursprung des Inhaltes der 
Rechtssätze erklären, nicht identisch ist mit der 
Rechtsquelle im technischen Sinne, dem Ent- 
stehungsgrunde des objektiven Rechts, der Quelle 
seiner formellen Geltung und Verbindlichkeit. 
Unter der Rechtsquelle versteht man den Faktor, 
welcher dem Rechtssatze seine verpflichtende Kraft 
verleiht, welcher dessen formelle äußere Geltung 
begründet. Die Heilige Schrift und die Tradi- 
tion sind jene Erkenntnisquellen des geoffenbar- 
ten Dogmas, auf Grund deren das unfehlbare 
kirchliche Lehramt den Lehrbegriff entwickelt und 
definiert hat. Sie sind jedoch an sich nicht 
Rechtsquellen; die äußere formelle Geltung und 
verpflichtende Kraft des ius divinum wurzelt 
vielmehr einzig und allein in der Anerkennung 
desselben durch die kirchliche Lehrautorität, in den 
Glaubensnormen, welche das unfehlbare kirchliche 
Lehramt festgestellt hat. Diesem allein steht die 
Entscheidung zu, welche fundamentalen Rechtssätze 
auf der Anordnung Christi beruhen. Bibel und 
Tradition sind nicht Rechtsquellen; darüber, ob 
ein Rechtssatz in der Bibel oder der Tradition 
als göttliche Ordnung bezeugt ist, steht nur dem 
kirchlichen Lehramte das Urteil zu. Für den Ju- 
risten ist einzig und allein der Ausspruch der kirch- 
lichen Lehrautorität, maßgebend. Die Annahme 
eines göttlichen Rechts hat deshalb die Existenz 
eines unfehlbaren Organes des kirchlichen Lehr- 
amtes zur wesentlichen Voraussetzung; sonst gibt 
es überhaupt kein leitendes Prinzip für die Ent- 
scheidung, welche der biblischen Vorschriften ab- 
solute und fundamentale sind. 
Wenn hervorragende Vertreter der deutschen 
kanonistischen Wissenschaft das ius divinum als 
ius naturale bezeichnet haben (Schulte, Die 
Lehre von den Quellen des katholischen Kirchen- 
rechts 47; Hinschius, System des katholischen 
Kirchenrechts III 771), so soll damit nicht etwa 
geleugnet werden, daß, wie alles Recht, auch das 
ius divinum ein positives Recht ist; die Grund- 
lagen der kirchlichen Rechtsordnung werden viel- 
  
Kirchenrecht. 
  
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mehr nur deshalb von diesen Juristen ius natu- 
rale genannt, weil dieselben als unabweisliche 
Konsequenzen des kirchlichen Lehrbegriffes er- 
cheinen. Diese moderne Auffassung, welcher nur 
das geoffenbarte ius divinum als ius naturale 
gilt, ist der älteren Schule ebenso fremd, wie 
jenen theologischen Autoren, welche auch heute 
noch auf die ethischen Voraussetzungen der Rechts- 
ordnung Begriff und Namen des Rechts über- 
tragen und die Forderungen des göttlichen Sitten- 
gesetzes an das Recht, also die ethische Qualifikation 
der Rechtsordnung, als ein durch die Vernunft er- 
kennbares, ewig wahres „Naturrecht“ behandeln. 
Die Epoche des Rationalismus, welchem 
die Vernunft nicht nur Mittel und Organ, son- 
dern alleinige Quelle wahrhafter Erkenntnis ist, 
versuchte auch die Begründung eines „natürlichen 
Kirchenrechts“, dessen Sätze in ihrer angeblichen 
Vernunftnotwendigkeit ihre Rechtfertigung finden 
und als absoluter, idealer Maßstab für die Be- 
urteilung des positiven Rechts gelten sollen. Diese 
Versuche verfolgen ein chimärisches Problem; der 
Begriff der Kirche, die Grundlagen ihrer Rechts- 
ordnung stehen uns nach katholischer Lehre nicht 
als ein Werk freier menschlicher Rechtsbildung, 
nicht als Schöpfungen des Menschengeistes und 
seiner Vernunft, sondern als positive göttliche 
Institution gegenüber. Es ist deshalb ein ver- 
kehrtes Beginnen, eine Kirche und eine vermeint- 
lich vernunftnotwendige Rechtsordnung derselben 
a priori auf dem Wege der Spekulation zu kon- 
struieren, „weil ohne jene positive Grundlage“ 
(den geoffenbarten Willen des göttlichen Stifters) 
„nicht einmal der nur rein positive Begriff der 
Kirche existieren könnte“ (Schulte). Die Versuche, 
„aus vernünftigen Prinzipien“ das System eines 
natürlichen Kirchenrechts zu entwickeln, ein Nor- 
malrecht aufzustellen, „nach welchem das rezipierte 
Recht jeder Kirche verbessert und berichtigt werden 
muß“ (s. z. B. Steger, Versuch eines natürlichen 
Kirchenrechts /17991 1x, 7), sind nur das Er- 
gebnis einer Kritik des Positiven, bei welcher das 
subjektive Rechtsgefühl den Anspruch erhebt, als 
das Orakel des ewig Vernünftigen zu gelten. 
Was dem individuellen Parteistandpunkt ent- 
spricht, wird da a priori als richtig und „ver- 
nunftnotwendig“ demonstriert; diese angeblichen 
Postulate der Vernunft, welche in Wahrheit gar 
nicht auf rein spekulativem Wege gewonnen wur- 
den, sollen nicht bloß als absoluter Maßstab des 
Werturteils über das Positive und Historische 
gelten, in welchem wir das Vermächtnis der Weis- 
heit und Erfahrung der dahingegangenen Gene- 
rationen erblicken; sie sind auch das „rationale“ 
Fundament einer Kritik, welche prüft, ob die ge- 
offenbarten Grundlagen der kirchlichen Rechts- 
ordnung mit den Forderungen des vermeintlichen 
Vernunftrechts im Einklange sind. 
Während in der deutschen Rechtswissenschaft 
diese Theorien eines „natürlichen Kirchenrechts“ 
längst aufgegeben sind, glauben jene Theologen 
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