Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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lokalen kirchlichen Autoritäten die Freiheit einer 
prinzipiell selbständigen Rechtsbildung zuerkannt 
würde, welche das von dem Organ der kirchlichen 
Einheit entwickelte gemeine Recht auf eine subsi- 
diäre, von der Willkür der lokalen Gewalten ab- 
hängige Geltung beschränkte, wäre offenbar im 
Widerspruche mit den in jure divino beruhenden 
Grundlagen der Kirchenverfassung, ja gleichbe- 
deutend mit einer Negation des der höchsten kirch- 
lichen Autorität übertragenen Primates. Das 
ius commune hat darum notwendig die Bedeu- 
tung eines grundsätzlich allgemeingültigen, für alle 
Teile und Glieder der Kirche verbindlichen Rechts; 
sofern die Rücksicht auf die vornehmste und wesent- 
liche Aufgabe der Kirche für die besondern Ver- 
hältnisse mancher Gebiete die Zulassung einzelner 
dem ius commune widerstreitenden Ausnahms- 
normen begründen soll, muß doch immer der 
höchsten kirchlichen Autorität das Urteil über die 
Rationabilität solcher Ausnahmen vorbehalten 
bleiben, und diese können ihr rechtliches An- 
sehen, den Charakter rechtlicher Ordnungen nicht 
im Widerspruche mit dieser Entscheidung be- 
haupten. 
Seit dem Ende des 16. Jahrh. kommt in sehr 
verschiedenen Modifikationen die Einteilung des 
Kirchenrechts in öffentliches (ius eccles. 
publicum) und Priva kkirchenrecht (ius eccles. 
privatum) vor, welche seit der Mitte des 18. Jahrh. 
für eine Reihe von Darstellungen geradezu die 
Grundlage ihres Systems bildete. Diese Unter- 
scheidung ist mißverständlich und verwirrend; sie 
verkennt das entscheidende Kriterium des öffent- 
lichen Rechts und konfundiert die Begriffe „sub- 
jektives Recht“ und „Privatrecht“, als ob jedes 
Individualrecht, jede subjektive Berechtigung als 
ein Privatrecht bezeichnet werden dürfte. Alle 
kirchenrechtlichen Normen tragen für jeden, der 
die Kirche anerkennt, wesentlich den Charakter an 
sich, welchen wir im Gebiete des weltlichen Rechts 
als das Kriterium des öffentlichen erklären. Die 
Kirche, ihre Einrichtungen und Ordnungen sind 
in ihr selbst und für die, welche ihrem Glauben 
ergeben sind, wesentlich eine öffentliche Institution, 
d. h. eine die Kirchenglieder zu einem Subijekte, 
zu einem sittlichen Ganzen, verbindende und mit 
Notwendigkeit beherrschende Anstalt des sittlichen 
Gemeinlebens. Es gibt in der Kirche nur öffent- 
liches Recht; der Begriff des Privatrechts ist dem 
Gebiete der Kirche fremd. Die kirchlichen Rechte 
der einzelnen können nach dem Wesen der Kirche, 
dem ihre Rechtsordnung durchaus beherrschenden 
Prinzip der Unterordnung des Individuellen 
unter das Allgemeine, niemals die Natur von 
Privatrechten haben. 
Wenn behauptet wurde, in jeder Rechtsordnung 
„einer unabhängigen Gesellschaft“, also auch im 
Kirchenrecht, sei die Anerkennung von Privatrechten, 
die Unterscheidung des öffentlichen und Privat- 
rechts „naturgemäß und notwendig“, weil man 
in jeder solchen Gesellschaft „die den einzelnen 
Kirchenrecht. 
  
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Mitgliedern um des Ganzen willen und für den 
Zweck des Ganzen zukommenden Pflichten und 
Rechte“ (Gebiet des öffentlichen Rechts) von den- 
jenigen unterscheiden müsse, „die ihnen um ihrer 
selbst willen und zum Zwecke ihrer eigenen per- 
sönlichen Befriedigung zukommen“ (Gebiet des 
Privatrechts), so läßt diese Deduktion, welche 
durchaus in der oben gerügten Manier der An- 
hänger des „Vernunftrechts“ verfährt, den Be- 
weis vermissen, daß der angeblich naturgemäße 
und vernunftnotwendige Gegensatz von öffent- 
lichem und Privatrecht auch in der Kirche wirk- 
lich bestehe, daß es in der Kirche Rechte der ein- 
zelnen geben könne, welche ihnen wie Privatrechte 
„um ihrer selbst willen und zum Zwecke ihrer 
eigenen persönlichen Befriedigung“ eingeräumt 
sind, welche wie Privatrechte der Willkür der 
Parteien, der beliebigen Disposition des einzelnen 
unterworfen sind. Alles kirchliche Recht steht ja 
in Beziehung zu jenem höchsten Ziele, welches der 
Kirche und den Individuen gemeinsam ist; Zwecke 
und diesen dienende Gerechtsame, welche wie 
Privatrechte in den Interessen des Individuums 
aufgehen und deshalb gänzlich der Willkür des 
einzelnen anheimfallen dürfen, können nicht kirch- 
liche sein. Soweit das Kirchenrecht (wie dies ja 
auch im Staatsrecht vorkommt) überhaupt einer 
Disposition des einzelnen Raum gibt und diesen 
nicht absolut zwingendem Rechte unterwirft, ist 
die ihm eingeräumte Diepositionsbefugnis nur 
eine Folge der für die kirchliche Organisation maß- 
gebenden Grundsätze und nicht etwa Konsequenz 
der Rücksicht auf „seine persönliche Befriedigung“, 
sein subjektives Belieben und Interesse. 
Die kirchlichen Rechte der einzelnen, die im 
Kirchenrechte wurzelnden subjektiven Berechti- 
gungen können darum niemals als Privatrechte 
bezeichnet werden; sie stehen (und gerade „diese 
zweiseitige Zweckbeziehung des Rechtsverhältnisses 
auf das Gemeinwesen“ gilt ja im Gebiete des 
weltlichen Rechts als das Kriterium der publi- 
zistischen, öffentlich-rechtlichen, Natur eines Ver- 
hältnisses; s. Wach, Handbuch des deutschen Zivil- 
prozeßrechts 1 94) dem einzelnen nicht als solchem 
(als Person oder Rechtssubjekt schlechthin), son- 
dern sie stehen ihm immer nur als Glied der 
kirchlichen Gemeinschaft gegenüber der letzteren als 
Gesamtheit zu; kirchliche Rechtsverhältnisse, Rechte 
und Pflichten der einzelnen sind nur möglich, 
weil und soweit der einzelne als Glied des kirch- 
lichen Gemeinwesens von dessen Zwecken ergriffen 
wird. Alle im Gebiete der Kirche bestehenden 
Individualrechte, alle kirchlichen Rechte der ein- 
zelnen finden notwendig in den Rücksichten der 
öffentlichen kirchlichen Ordnung und des von der 
kirchlichen Verwaltung zu wahrenden kirchlichen 
Gemeininteresses ihr Ziel und ihre Schranke. 
(Aus der Literatur über diese Frage vgl. besonders 
Jacobson, Kirchenrechtl. Versuche, 2. Beitrag, 
S. 43 f, insbesondere 71f79, 96, 125; Stahl, 
Rechtsphilosophie II, 1, § 45, S. 301; Vering
	        
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