Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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oder auf interkonfessionelle Fragen beziehen, wäh- 
rend in der älteren, bis zur Mitte des 19. Jahrh. 
vorherrschenden Terminologie die Bezeichnungen 
„äußeres Kirchenrecht", „Kirchenstaatsrecht“, 
„Staatskirchenrecht“ entweder als identische ge- 
braucht wurden oder die beiden letzteren nur die auf 
das Verhältnis der Kirche zum Staat (nicht auch 
die auf das gegenseitige rechtliche Verhältnis der 
Konfessionen) sich beziehenden Normen umfaßten. 
Systematische Gesamtdarstellungen 
des Kirchenrechts, welche ihren Stoff nicht mehr 
als Quellenkommentare behandeln oder doch der 
in den offiziellen Dekretalensammlungen befolgten 
Legalordnung der Bücher und Titel einfügen, sind 
seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrh., zunächst 
nach dem Muster des römischen Institutionen- 
systems, versucht worden. Ist es die Aufgabe der 
systematischen Darstellung, die innere Einheitlich- 
keit des Rechtsstoffes zur Klarheit zu bringen, 
durch Übersichtlichkeit und Verständlichkeit dessen 
Erfassung zu erleichtern, nicht aber eine bloße 
äußere logische Verknüpfung des Stoffes zu ver- 
mitteln, so konnte das Institutionensystem dieser 
Aufgabe unmöglich entsprechen, weil hier das 
Kirchenrecht gewaltsam in den Rahmen einer 
zivilistischen Schablone gepreßt wurde, welche 
(abgesehen von der Frage ihrer Berechtigung in 
einem Systeme des bürgerlichen Rechts) jedenfalls 
dem durchaus öffentlichen Charakter des Kirchen- 
rechts widerspricht und die Rücksicht auf die eigen- 
artige Natur des Stoffes einem „monokratischen 
Formalismus“ opfert. Seit der Mitte des 
18. Jahrh. ist für die Mehrzahl der Darstellungen 
des Kirchenrechts die mißverständliche Einteilung 
desselben in ius eccles. publicum und ius. 
eccles. privatum die Grundlage des Systems 
gewesen, dessen „Privatkirchenrecht“ wiederum 
unverkennbar nach der den Institutionen ent- 
lehnten Anordnung (personae, res, actiones) 
gegliedert ist. Als der öffentliche Charakter des 
Kirchenrechts, wenigstens in der deutschen Rechts- 
wissenschaft, zu allgemeinerer Würdigung gelangte, 
war für den Aufbau des Systems die Analogie 
des Staatsrechts entscheidend, dessen Vorbild die 
Rubriken jenes Systems bestimmte, welches in der 
deutschen Rechtswissenschaft seit mehr als einem 
halben Jahrhundert das vorherrschende ist. Nach 
einer (inhaltlich freilich sehr verschieden begrenzten) 
Einleitung, welche vorwiegend den in den einzelnen 
Perioden der Entwicklung hervortretenden allge- 
meinen Charakter der Rechtsbildung und die 
Quellen des Kirchenrechts behandelt, wird der Stoff 
in drei Hauptteile (Verfassung, Verwaltung der 
Kirche, kirchliches Leben) gegliedert zur Darstellung 
gebracht. Auf dem gleichen Grundgedanken be- 
ruht die von Hinschius (zuerst in Holtzendorffs 
Enzyklopädie der Rechtswissenschaft in systemat. 
Bearb. I1 1870. durchgeführte systematische An- 
ordnung des Kirchenrechts, welche die ungenaue, 
dem juristischen Charakter des Stoffes nicht ent- 
sprechende Rubrik „Kirchliches Leben“ ausgeschie- 
Kirchenrecht. 
  
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den hat. dier schließt sich der Darstellung der 
kirchlichen Verfassung (des für die Leitung der 
Kirche bestehenden hierarchischen Organismus) 
jene der einzelnen Funktionen des kirchlichen Re- 
gierungsorganismus (das kirchliche Verwaltungs- 
recht) und als ein weiterer Hauptteil die Lehre von 
den Rechtsverhältnissen der einzelnen Kirchen- 
glieder wie der kirchlichen Genossenschaften an. 
Schulte (dessen Beispiele manche neuere Dar- 
stellungen gefolgt sind, obwohl sie, wie Schultes 
eigene spätere Lehrbücher, aus didaktischen Grün- 
den dessen System im einzelnen modifiziert, d. h. 
nach dem längst geläufigen Vorbilde umgestaltet 
haben) hat wohl gegenüber diesen Systemen der 
modernen deutschen Rechtswissenschaft, welche die 
Grundzüge ihrer Gliederung des Stoffes der 
Disziplin des Staatsrechts entlehnen, die Not- 
wendigkeit eines Systems des Kirchenrechts betont, 
welches „aus ihm selbst entwickelt“ würde. Dieses 
von Schulte (in dessen Kath. Kirchenrecht, 2. TI: 
System des allgem. kath. Kirchenrechts (1856)) 
ausgestellte System (das öffentliche Recht der 
Kirche, das Privatrecht der Kirche, Privatrechte 
in der Kirche) hat jedoch nicht bloß die unhaltbare 
Unterscheidung öffentlicher und privater Rechte im 
Gebiete des Kirchenrechts zur Voraussetzung: 
gegen dieses System muß in noch höherem Maße 
als gegen die in der älteren Manier auf der 
Grundlage des ius ecclesiasticum publicum 
und privatum aufgebauten Darstellungen der 
Vorwurf erhoben werden, daß durch solche Unter- 
scheidungen nur Mißverständnis und Begriffsver- 
wirrung befördert werden. Im zweiten Gliede 
der obigen Einteilung soll „Privatrecht“ das 
Recht bedeuten, welches der Kirche im Gebiete des 
weltlichen bürgerlichen Rechts, des Vermögens- 
rechts, zusteht, während die angeblichen „Privat- 
rechte in der Kirche“ Rechte der einzelnen und 
Genossenschaften sind, welche in der kirchlichen 
Rechtsordnung wurzeln. Kahl (Lehrsystem des 
Kirchenrechts und der Kirchenpolitik I (1894.) 
ordnet den Stoff in einen allgemeinen und einen 
besondern Teil: Begriff, Quellen des Kirchen- 
rechts, Staat und Kirche — „Rechtslehre vom 
Kirchenorganismus“ („Verfassungslehre“ und 
„Funktionenlehre"), „Rechtslehre von der Kirchen- 
mitgliedschaft“ („allgemeine Mitgliedschaftsrechte" 
und die „kirchlichen Sonderrechte“). (Über die 
Vorzüge dieses von Kahl a. a. O. 45 ff ent- 
wickelten Systems Lin welchem jedoch dem Ehe- 
recht kein Platz eingeräumt ist, da Kahl das Ge- 
biet des Kirchenrechts nach protestantischen Grund- 
sätzen bestimmt] vgl. meine Bemerkungen in den 
Gött. Gel. Anz. 1897, 672 ff.) 
Während nach dem bisher in der deutschen 
Kirchenrechtswissenschaft befolgten Brauche die 
Geschichte der Rechtsentwicklung als historische 
Einleitung in die betreffenden Abschnitte der 
Darstellung des geltenden Rechts aufgenommen 
wurde, verwirft U. Stutz (Die kirchliche Rechts- 
geschichte /1905.) grundsätzlich diese „Verquickung
	        
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