Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

265 
zwischen Kirche und Staat kann die Kirche heutzu- 
tage von dem größten Teil der angeführten Stra- 
fen keinen Gebrauch mehr machen. Doch kann sie 
gegen die Laien noch einschreiten mit Rüge, 
Zwangsbuße, Entziehung kirchlicher Ehrenrechte, 
so der Patenschaft, mit Verweigerung der Kom- 
munion und besonders des kirchlichen Begräbnisses. 
Bei Geistlichen kann sie auf Geldstrafen und Frei- 
heitsentziehung in Gestalt der Einweisung in ein 
Korrektionshaus, Kloster oder Demeritenanstalt 
erkennen. 
Besonders aber bestehen an vindikativen Stra- 
fen gegen die Kleriker: 
1. Die Strafversetzung (translocatio), 
die aus Gründen nach stattgehabtem kanonischen 
Prozeß erfolgende Versetzung eines Klerikers auf 
ein weniger gutes Benefizium. 
2. Die Amtsentsetzung (privatio bene- 
fic1#), die definitive Entziehung der Pfründe auf 
Grund eines notorischen oder gerichtlich eingestan- 
denen oder prozessualisch erwiesenen Vergehens. 
Jedoch wird der Schuldige nicht unfähig, nach 
eingetretener Besserung ein anderes Benefiz zu 
erhalten. Immerhin könnte der kirchliche Richter 
zugleich mit der privatio benefücü eine Ungültig- 
keitserklärung zur Erwerbung eines andern Amtes 
verknüpfen (Trid. sess. XIV de ref. c. 6; sess. 
XXI de ref. c. 1; sess. XXIII de ref. c. 1). 
3. Die Deposition, die lebenslängliche 
Entsetzung eines Klerikers von jeder Ausübung 
eines bereits empfangenen ordo und jeder Juris- 
diktion mit bleibender Inhabilität zu einem Bene- 
fizium. Doch geht das privilegium fori et ca- 
nonis dadurch nicht verloren. Sonst aber ist der 
Deponierte ungeachtet des unverlierbaren priester- 
lichen Charakters den Laien gleich zu behandeln 
(c. 9, D. XXVIII). Die Deposition eines Bi- 
schofs kommt dem Papste zu, die eines Priesters 
nimmt der Bischof unter Beirat des Kapitels vor, 
und die eines Minoristen kann der Bischof für sich 
allein vollziehen. Dieselbe erfolgt bei besonders 
schweren und ärgerniserregenden Fällen. Bei ein- 
getretener Besserung kann die Deposition wieder 
aufgehoben werden. 
4. Die Degradation beraubt den Schul- 
digen auch des privilegium fori et canonis 
(c. 10, X de iud. 2, 1; Trid. sess. XIII de 
ref. c. 4). Diese Strase kommt nur zur Anwen- 
dung bei sehr schweren oder gar todeswürdigen 
Verbrechen. In solchen Fällen nämlich hat die 
staatliche Gewalt vielfach schon im Mittelalter den 
Schuldigen trotz des privilegium fori, d. h. trotz 
des beim Kleriker allein kompetenten kirchlichen 
Gerichtes, vor ihr Forum gezogen. Daher mußte 
ein solcher zuvor vom kirchlichen Richter seiner 
klerikalen Privilegien entkleidet werden, um dem 
weltlichen Richter überlassen werden zu können. 
So unterschied man die Degradation von der De- 
position. Das Recht unterscheidet näherhin de- 
gradatio verbalis und degradatio actualis 
s. Sollemnis. Die degradatio verbalis besteht 
Kirchenstrafen. 
  
266 
in der gerichtlichen Untersuchung und Konstatierung 
der Schuld, der Absetzung von Amt, der Erklä- 
rung der Unfähigkeit, wieder ein solches zu er- 
halten, und in dem Urteil, daß der Verbrecher die 
Degradation und die Auslieferung an die welt- 
liche Gewalt verdiene. Gerade durch das letztere 
Moment unterscheidet sich die Degradation von 
der Deposition und die degradatio verbalis von 
der degradatio actualis. Letztere ist die durch 
den konsekrierten Bischof vorgenommene Abnahme 
der geistlichen Insignien und Gewänder, welche 
dem Schuldigen gemäß seiner ordines gebühren 
und mit welchen bekleidet er vor dem Bischof er- 
scheint. Die degradatio verbalis dagegen ist 
ein Akt der Jurisdiktion und kann daher schon 
vom konfirmierten Bischof oder in dessen Auftrag 
durch den Generalvikar oder den Kapitularvikar 
vorgenommen werden. Bei der Degradation eines 
Priesters müssen sechs, bei der eines Majoristen 
drei weitere Bischöfe bzw. infulierte Prälaten oder 
Abte als Richter beigezogen werden (c. 1 in VI“ 
de haeret. 5, 2; Trid. sess. XIII de ref. c. 4). 
Ubrigens verliert auch der Degradierte die spiri- 
tuelle Befähigung und den character indelebilis 
nicht. Er könnte also im Notfalle geistliche Hand- 
lungen verrichten. Der Papst könnte eine komplete 
und der Bischof wenigstens eine degradatio ver- 
balis wieder aufheben. 
VIII. Die Stellung, welche der Staat zu 
den Kirchenstrafen genommen hat, ist zu verschie- 
denen Zeiten verschieden gewesen. 
Der mittelalterliche katholische Staat anerkannte 
durchaus die kirchliche Strafgesetzgebung und unter- 
stützte die Kirche in deren Durchführung hinsicht- 
lich der rein kirchlichen Vergehen und Verbrechen. 
Ebenso vereinbarte er mit ihr die Strafgesetze und 
deren Durchführung hinsichtlich der delicta mixta, 
d. h. jener Vergehen und Verbrechen, die eine 
kirchliche und eine bürgerliche Seite an sich trugen. 
Entscheidend war in der Regel die Prävention, 
d. h. wenn die Sache zuerst beim kirchlichen Richter 
anhängig geworden war, verhängte dieser auch die 
bürgerliche Strafe und führte sie eventuell mit 
Hilfe des bürgerlichen Richters durch, falls sie 
nicht Leibes= oder Lebensstrafe war, die immer 
der bürgerliche Richter exekutierte. Ging aber die 
Klage zuerst an den weltlichen Richter, so erfolgte 
die bürgerliche Bestrafung, und die Tätigkeit der 
Kirche beschränkte sich auf den Beichtstuhl (c. 8, 
X de foro compet. 2, 2). Bei den delicta mere 
eivilia bestrafte die Kirche wenigstens bei den 
Klerikern auf Grund des privilegium fori allein. 
Der moderne Staat ist entweder paritätisch 
oder hat sich von der Kirche mehr oder weniger 
getrennt. Im letzteren Fall kümmert er sich um 
die kirchliche Strofgesetzgebung und deren Durch- 
führung so gut wie nicht oder höchstens so weit, 
als er einem privaten Verein zur Exekutierung seiner 
Statuten und zum Schut seiner Rechte behilflich 
ist. Der paritätische Staat gestattet der Kirche den 
unbeschränkten Gebrauch ihrer Medizinal-, Dis-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.