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der belgischen Kammer wurde wiederholt auf die
Zustände am Kongo hingewiesen, die Annexion
auf Grund der Konvention von 1890 zwar trotz
der Befürwortung durch Beernaert 1901 abge-
lehnt, das Recht der Annexion aber weiterhin ge-
sichert. In England setzte eine heftige, namentlich
von Handelskreisen Liverpools und Manchesters
und einer Anzahl philanthropischer und religiöser
Gesellschaften ausgehende Agitation gegen die
„Kongogreuel“ ein, die zwar großenteils von
Handelsneid und Egoismus diktiert war, trotz der
Bemäntelung mit philanthropischen Phrasen, aber
auch manche berechtigten Vorwürfe erhob. 1904
gelang es England, die Entsendung einer belgi-
schen Untersuchungskommission durchzusetzen, die
aus zwei belgischen hohen Justizbeamten (Nisco
und Janssens) und dem Schweizer Ständerat Schu-
macher bestand und Okt. 1904 bis Febr. 1905 das
Innere des Kongostaates bereiste. Ihr Bericht vom
30. Okt. 1905 stellte bei aller Anerkennung für
das vom Staat Geleistete doch eine Reihe von
schweren Mißständen fest. Die belgische Kammer
forderte einstimmig Reformen, worauf Leopold
im Jan. 1906 eine Reihe von Reformdekreten er-
ließ, die aber nur zum Teil zur Ausführung
kamen. Nach langen Verhandlungen mit dem
König wegen Annexion des Kongostaates durch
Belgien kam 28. Nov. 1907 zwischen den beiden
Regierungen ein Überlassungsvertrag zustande,
der Belgien mit einer Anzahl schwerer Bedingungen
belastet und vor allem die Krondomäne, die ein
Drittel der gesamten Kautschukproduktion um-
schloß, der belgischen Kontrolle fast ganz entzogen
hätte. Bei dem heftigen Widerstand im Lande,
der zum Sturz des Ministeriums de Smet de
Naeyer führte, und der fortgesetzten Agitation
Englands mußte Leopold nachgeben. In einer
Zusatzakte zum Überlassungsvertrag verzichtete er
(5. März 1908) auf die Krondomäne und überließ
Belgien die volle Verwaltung des Kongostaates;
Belgien verpflichtete sich zur Zahlung einiger Apa-
nagen und Renten (jährlich 320.000 Franken), Er-
richtung von zwei Fonds von 45,5 und 50 Mill.
Franken zur Ausführung der von der Krondomäne
in Brüssel, Laeken, Ostende usw. begonnenen
Bauten und für gemeinnützige Zwecke sowie zur
Überlassung von 40 000 ha am unteren Kongo
(Majumbe) an den König als Privateigentum.
Am 25. März 1908 wurde das Kolonialgesetz
und der Kongo-Angliederungsvertrag in der Ko-
lonialkommission, am 20. Aug. in der Kammer,
am 9. Sept. im Senat angenommen; am 19. Okt.
erfolgte die Veröffentlichung der Gesetze, am
30. Okt. die Schaffung des Kolonialministeriums,
am 16. Dez), die Verkündung der Übernahme in
Boma. Großbritannien hat die neuen staatsrecht-
lichen Verhältnisse bisher nicht anerkannt.
II. Verwaltung. Die oberste Verwaltung
des Kongostaates führt das belgische Kolonial-
ministerium, das neben dem Minister aus dem
Kabinett, dem Generalsekretariat und 4 General-=
Kongostaat.
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direktionen besteht. Der Kolonialminister ist zu-
gleich Präsident des Kolonialrats, von dessen
14 Mitgliedern 8 vom König ernannt, 8 vom
Senat und 3 von der Kammer gewählt werden.
Jährlich tritt je 1 der vom König und vom Par-
lament bestimmten Mitglieder zurück, doch ist
Wiederwahl zulässig. Die Gesetzgebung erfolgt
durch königliche Dekrete, die auf Vorschlag des
Kolonialministers erlassen werden; jedes Dekret
kann durch ein Gesetz des belgischen Parlaments
aufgehoben werden.
Das Budget der Kolonie wird alljährlich der
Kammer zur Beratung und Beschlußfassung vor-
gelegt, die Rechnungsaufstellung muß vom Rech-
nungshof genehmigt werden. Zugleich mit dem
Budget ist den Kammern jährlich ein Bericht über
die Verwaltung vorzulegen. Das Parlament be-
schließt über Anleihen und kontrolliert die größeren
Konzessionserteilungen.
Vertreter der Regierung ist in der Kolonie selbst
der Generalgouverneur (in Boma), dem 1 (nach
Bedarf auch mehrere) Vizegeneralgouverneur,
2 Direktoren für Justiz und Finanzen, der Be-
fehlshaber der Streitkräfte, der Generalprokurator
und 14 medizinische Direktoren zur Seite stehen.
Für die Verwaltung ist das Gebiet in 14 Distrikte
unter je einem Distriktskommissar eingeteilt. Große
Distrikte zerfallen wieder in Zonen unter Zonen-
chefs. 1907 gab es 313 von Europäern komman-
dierte Posten und Stationen mit 1585 euro-
päischen Regierungsbeamten. Zum Schutz der
Eingebornen ist eine ständige Kommission von 7
durch den König ernannten, in der Kolonie an-
sässigen Mitgliedern bestellt, die mindestens einmal
jährlich tagt. Für die Rechtspflege sorgen 5 Ge-
richtshöfe erster Instanz (für Zivil-, Handels= und
Strafsachen) und 1 Appellationsgericht in Boma,
9 Territorialgerichte (nur für Strafsachen), für
das Militär 27 Kriegsgerichte erster Instanz (con-
seil de guerre) und das Appellkriegsgericht in
Boma. Geringere Streitigkeiten der Eingebornen
untereinander entscheidet der Ortshäuptling nach
lokalem Gewohnheitsrecht, wobei Berufung an
das belgische Gericht offen bleibt. Deutschlands
Interessen werden durch den Gouverneur von
Kamerun als Generalkonsul, den Konsul von
S. Paulo de Loanda und einen Vizekonsul in
Matadi vertreten.
In kirchlicher Beziehung zerfällt der Kongo-
staat in die Apostolischen Vikariate des Belgischen
Kongo und des obern Kongo und in die Aposto-
lischen Präfekturen des obern Kassai, des Kwango,
des Uelle und der Stanleyfälle. Man zählt 1909
268 Missionäre und 125 Ordensschwestern, 61
feste, 40 vorübergehende Stationen, 834 sog.
Fermes-chapelles (Werkstätten und landwirt-
schaftliche Versuchsstationen, in denen die Ein-
gebornen zu Handwerkern und Landarbeitern aus-
gebildet werden), 143 Kirchen und Kapellen,
3 Mittelschulen, 112 Volksschulen, 96 christliche
Dörfer, 37 500 getaufte Christen, 86 650 Kate-