Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

409 
Keine abstrakte Begriffsjuristik kann darüber 
hinwegtäuschen, daß Staat und Kirche vonein- 
ander unabhängige Rechtsgebiete und Befugnisse 
haben, auf die ein Rechtsanspruch dem andern 
Teile nicht zusteht. Gerade deshalb aber ist es 
auch möglich, daß Staat und Kirche Verein- 
barungen treffen, wonach dem Staate vertrags- 
weise Befugnisse auf kirchlichem Gebiete eingeräumt 
werden, während umgekehrt der Staat sich ver- 
pflichtet, seine Gewalt und Befugnis in bestimmter 
Weise in den Dienst kirchlicher Aufgaben zu stellen. 
Diese Notwendigkeit für beide Teile, bei be- 
stimmten kirchenpolitischen Wünschen sich zu ver- 
einbaren, bleibt auf Grund von beiderseits unab- 
hängigen Rechtssphären bestehen, auch wenn man 
durchaus anerkennt, daß das Gebiet der Vertrags- 
notwendigkeit für beide Teile im modernen Rechts- 
staat sich gemindert hat; insofern nämlich in 
manchen Punkten jetzt durch rechtsstaatliche Garan- 
tien das für Sicherung kirchlicher Aufgaben er- 
reicht werden kann, was früher, da überhaupt das 
öffentliche Recht viel mehr vom ius pactititium 
durchsetzt und getragen war, durch vertragsmäßige 
Abmachungen zwischen Kirche und Staat bewerk- 
stelligt wurde. 
4. Die Privilegientheorie, welche eine 
vertragsmäßige rechtliche Bindung des Papstes 
durch die Konkordate nicht zugibt und die kirch- 
lichen Zugeständnisse an den Staat als rechtlich 
frei zurücknehmbare päpstliche Privilegien erklärt, 
geht vor allem von folgenden zwei Gesichtspunkten 
aus. Einmal fehlt nach ihr die Voraussetzung für 
einen zweiseitigen Vertrag zwischen Kirche und 
Staat, insofern zwar die Kirche in der Lage ist, 
dem Staate Konzessionen zu machen, dieser aber 
eigentlich freie Leistung nicht dafür als Gegen- 
ersatz der Kirche bieten kann. Die Kirche hat 
schlechtweg ein Recht, Unterstützung von seiten der 
Staatsgewalt zu verlangen, die sie sich nur noch 
in bestimmter Form feierlich zusichern läßt. Diese 
Theorie übersieht, daß das kirchenpolitische System 
der Verbindung von Staat und Kirche zwar ein 
sehr wünschenswertes, aber kein naturrechtlich ab- 
solut gebotenes ist und daß der Staat wohl in der 
Lage ist, der Kirche freie Förderung und Unter- 
stützung vertragsmäßig zuzusichern. Sodann hat 
der Staat zwar keinerlei Rechte am innern Leben 
der Kirche, aber die bürgerlich-weltliche Seite der 
kirchlichen Lebensäußerungen ist nicht in allem der 
staatlichen Zuständigkeit entzogen. Auf diesem 
Grenzgebiet ist der Staat ebenfalls in der Lage, 
durch freie Zugeständnisse eine friedliche Grenz- 
regulierung zu erleichtern. Die Uberspannung des 
kirchlichen Unabhängigkeitsgedankens, als ob die 
Kirche auch in allen bürgerlich-weltlichen Seiten 
ihrer Lebensäußerungen der staatlichen Zuständig- 
keit vollständig entzogen wäre, ist der Hauptnähr= 
boden der Privilegientheorie, wie umgekehrt die 
Legaltheorie ihre Stütze in der Identifizierung 
— Souveränität und absoluter Staatsallmacht 
ndet. 
Konkordate. 
  
410 
Der zweite Einwand, den die Vertreter der 
Privilegientheorie gegen die Möglichkeit einer 
rechtlichen Bindung der Kirche erheben, geht da- 
hin, daß die Kirche selbst nicht berechtigt sei, ver- 
tragsmäßig auf ihre gottgegebenen, von welltlicher 
Gewalt unabhängigen Befugnisse zu verzichten. 
Der Papst könne unmöglich in rechtlich bindender 
Weise kirchliche Vollmachten veräußern, die von 
Christus der Kirche als unveräußerlich gegeben 
seien. Hingegen ist zu sagen, daß es sich bei der 
rechtlichen Bindung des Papstes bezüglich der 
Ausübung seiner Kompetenz gar nicht um unstatt- 
hafte absolute Entäußerung kirchlicher Rechte han- 
delt, ebensowenig wie umgekehrt um Entäußerung 
staatlicher Rechte, sondern um die vertragsmäßige 
Zusicherung „einer bedingungsweisen Überlassung 
an sich kirchlicher Befugnisse“ (Cathrein, Moral-- 
philosophie II I21893 J 633). Diese Bedingung 
aber ist, wie wir gleich sehen werden, die, daß die 
Art der Ausübung von an sich kirchlichen Befug- 
nissen durch den Staat nicht verstoße gegen ein 
Lebensinteresse der Kirche, und daß die Kirche da- 
durch nicht an der Betätigung ihrer Aufgaben 
gehindert werde. 
5. Was an der Legal= wie an der Privilegien- 
theorie Wahres ist, das kommt voll zur Geltung 
auf dem Boden einer dritten Auffassung der Kon- 
kordate, auf dem Boden der Vertragstheorie, 
die den unentbehrlichen Vorzug hat, daß sie nicht 
wie die beiden andern Theorien mit der unbestreit- 
baren Absicht der beiden Teile, sich gegenseitig zu 
binden, in offenkundigem Widerspruch steht. 
Diese dritte Theorie hält in vollstem Einklang 
mit der Art und Weise des Zustandekommens der 
Konkordate daran fest, daß die Konkordate Ver- 
träge sind, und zwar wirkliche Verträge, die eine 
gegenseitige rechtliche Bindung herbeiführen. Diese 
Auffassung übersieht aber auch nicht, daß es sich 
bei den Konkordaten nicht um privatrechtliche Ver- 
träge handelt, sondern um eigenartige öffentliche 
Verträge, bei denen — analog den völkerrecht- 
lichen — die gegenseitige rechtliche Bindung keine 
starre und absolute ist, deren rechtliche Fortdauer 
vielmehr abhängt von der stillschweigend beigesetz- 
ten, aber selbstverständlichen Klausel rebus sie 
stantibus. Wenn Kirche und Staat durch ein 
Konkordat vertragsmäßig sich binden, so heißt 
das nicht, daß sie auch dann noch gebunden seien, 
wenn unter veränderten Verhältnissen die Ver- 
einbarungen gegen ein Lebensinteresse von Kirche 
oder Staat mißbraucht würden oder die Aus- 
übung wesentlicher Aufgaben von Kirche und 
Staat direkt hinderten. 
Die Vertreter der Vertragstheorie begründen 
ihre Ansicht von der rechtlichen Bindung von 
Staat und Kirche durch ein Konkordat damit, daß 
sie sagen: ein Vertrag mit gegenseitiger Bindung 
zwischen Kirche und Staat ist an sich möglich; 
und beim Abschluß von Konkordaten wird diese 
gegenseitige Bindung von beiden Teilen auch tat- 
sächlich bald formell bald durch die ganze Art
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.