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der Gesetzgebung zuzusprechen, eine Anteilnahme,
die allerdings keine positive Teilhaberschaft an der
Gesetzgebungsgewalt, sondern nur ein Vetorecht
dieser gegenüber bedeutet. Wie sich im übrigen
Montesquien das Verhältnis von Legislative und
Exekutive zueinander gedacht hat, insbesondere
ob beide in einem koordinierten oder subordinierten
Verhältnis zueinander ständen, ist Gegenstand
einer allerdings erst in neuerer Zeit entstandenen
Streitfrage geworden. Zwar darüber ist man noch
einig, daß auch er davon ausgeht, die Legislative
habe nicht die Befugnis, der Exekutive Einhalt zu
tun, wohl aber die von der letzteren vorgenom-
mene Ausführung der Gesetze zu kontrollieren und
die Exekutive eventuell zur Verantwortung zu
ziehen. Aber während mit einer gewissen Kon-
sequenz dessen von einer Seite behauptet wird,
Montesquien lehre weiter, daß die Exekutive, da
sie nur die von der Legislative beschlossenen Ge-
setze zur Ausführung zu bringen habe, zur letzteren
von Hause aus in einem Abhängigkeitsverhältnisse
stehe und mithin auch der Träger der Exekutive
in einem solchen Abhängigkeitsverhältnisse zu der
gesetzgebenden Gewalt des Volkes, hat ihn die bis-
her herrschende Ansicht dahin aufgefaßt, er habe
sagen wollen, die drei Gewalten seien vollständig
gleichberechtigt und voneinander unabhängig,
wenngleich sachlich sich berührend. Was die richter-
liche Gewalt anlangt, so ist sie von jeder Einwir-
kung der Exekutive freizustellen; sie ist lediglich den
Gesetzen zu unterstellen und an diese gebunden, hat
aber auch nach Montesquien ein weitgehendes Recht
der Prüfung, ob die in ordnungsgemäßer Form
publizierten Gesetze auch in rechtsbeständiger Form
zustande gekommen sind. — Die Entwicklung,
welche die Theorien Lockes und Montesquieus so-
dann durch Rousseau erfuhren, gipfelte hauptsäch-
lich darin, daß er die absolute Trennung der
Gewalten, hier speziell an die absolute Trennung
der Exekutive von der Legislative gedacht, vertritt,
jede Teilnahme der ersteren an der letzteren für
ausgeschlossen, ja für logisch unmöglich erklärt,
die Gesetzgebungsgewalt als unveräußerlich dem
Volke allein zuspricht und die Exekutive ihr für
untergeordnet und von ihr abhängig erklärt. Die
Gesetzgebungsgewalt des Volkes ist aber derart
unveräußerlich, daß es eine Vertretung des Volkes
im Willen gar nicht geben kann; die Vertretung,
die ein Volk im Parlament hat, kann daher nicht
ohne imperatives Mandat statthaben, und ein
Gesetz, das von einer Volksvertretung ohne im-
peratives Mandat beschlossen wäre, ist nicht gültig.
3. Wie schon bemerkt, fanden die Lehren Montes-
quieus und, je mehr die französische Nation der
Revolution zutrieb, auch die Rousseaus einen für
ihre Aufnahme günstigen Boden, bis zunächst die
französische Revolution insbesondere die letzteren
dann auch im wesentlichen in die Praxis umsetzte.
Zugleich führte aber die gewollte gänzliche Neu-
ordnung der materiellen verfassungsmäßigen Zu-
stände mit innerer Rotwendigkeit dazu, ihr auch
Konstitutionalismus.
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formellen Ausdruck zu geben. Und so ergab sich
gewissermaßen von selbst, zweifellos aber auch an-
geregt durch das Vorbild, welches in dieser Hin-
sicht von den selbständig gewordenen nordameri-
kanischen Kolonien gegeben war, die Niederlegung
der Verfassungsgrundsätze in einer Urkunde. Als
erste Verfassungsurkunde dieser Art, von der Er-
klärung der Menschenrechte unter dem 26. Aug.
1789 abgesehen, stellt sich die französische vom
3. Sept. 1791 dar. Sie steht vollständig unter
dem Einfluß Rousseauscher Theorien, indem nach
ihr die vollziehende Gewalt der gänzlich unbe-
schränkten Gesetzgebungsgewalt, die durch eine
einzige Kammer ausgeübt wird, untergeordnet ist,
ja zum Teil von dieser selbst ausgeübt wird. Zwar
ist die königliche Gewalt noch erhalten, auch für
unteilbar und erblich, die Person des Königs auch
für unverletzlich und unverantwortlich erklärt, aber
der König ist nur Delegierter, Bevollmächtigter
des Volkes, hat keinen Anteil an der gesetzgebenden
Gewalt, sondern ihren Beschlüssen gegenüber nur
ein Vetorecht, und auch dieses verliert seine Be-
deutung einem zum drittenmal von der gesetz-
gebenden Körperschaft gefaßten Beschlusse gegen-
über. An Stelle des unverantwortlichen Monarchen
sind die Minister für jede Verletzung der Ver-
fassung verantwortlich. Nur in einem wesentlichen
Punkte wich diese Verfassung von den Rousseau-
schen Ideengängen ab. Zwar galt der Satz von
der Unveräußerlichkeit der Gesetzgebungsgewalt
des Volkes weiter und erhielt durch die von Sieyes
formulierte Lehre vom pouvoir constituant und
pouvoir constitué sogar noch eine bestimmtere
Durchbildung, aber durch die von demselben
Sieyes durchgesetzte Bestimmung jener Verfassung,
daß die Abgeordneten nicht Vertreter ihrer ein-
zelnen Departements, sondern des ganzen Volkes
und an Aufträge und Instruktionen ihrer Wähler
nicht gebunden seien, war der Grundsatz von der
Unveräußerlichkeit der Gesetzgebungsgewalt des
Volkes durchbrochen und diese letztere am letzten
Ende, auch soweit es sich um Verfassungsände-
rungen handelte, vom Volke in das Parlament
verlegt. Erst die späteren Verfassungen der Re-
volutionszeit nach Abschaffung des Königtums
verlegen wieder dadurch, daß sie für Verfassungs.
änderungen die Volksabstimmung verlangten, die
konstituierende Gewalt in die Hände des Volkes,
geben anderseits aber auch der Exekutive wieder
Anteil an der Gesetzgebung, bis sie mit Errichtung
des Kaisertums jener ein derartiges Übergewicht
über die Legislative überlassen, daß in Wirklichkeit
die absolute Monarchie errichtet und nur noch der
Schein einer Gesetzgebungsgewalt des Volkes übrig
geblieben ist. Nach Wiederherstellung des König-
tums in Frankreich unter Ludwig XVIII. erhält
dieses Land in der Charte constitutionelle vom
4. Juni 1814 eine neue Verfassung, die als freie
Gabe des Königs von Gottes Gnaden dem Volke
aufoktroyiert, die souveräne Gewalt des ersteren
nur soweit beschränkt, als sie ausdrücklich erklärt.