Full text: Staatslexikon. Dritter Band: Kaperei bis Paßwesen. (3)

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der Gesetzgebung zuzusprechen, eine Anteilnahme, 
die allerdings keine positive Teilhaberschaft an der 
Gesetzgebungsgewalt, sondern nur ein Vetorecht 
dieser gegenüber bedeutet. Wie sich im übrigen 
Montesquien das Verhältnis von Legislative und 
Exekutive zueinander gedacht hat, insbesondere 
ob beide in einem koordinierten oder subordinierten 
Verhältnis zueinander ständen, ist Gegenstand 
einer allerdings erst in neuerer Zeit entstandenen 
Streitfrage geworden. Zwar darüber ist man noch 
einig, daß auch er davon ausgeht, die Legislative 
habe nicht die Befugnis, der Exekutive Einhalt zu 
tun, wohl aber die von der letzteren vorgenom- 
mene Ausführung der Gesetze zu kontrollieren und 
die Exekutive eventuell zur Verantwortung zu 
ziehen. Aber während mit einer gewissen Kon- 
sequenz dessen von einer Seite behauptet wird, 
Montesquien lehre weiter, daß die Exekutive, da 
sie nur die von der Legislative beschlossenen Ge- 
setze zur Ausführung zu bringen habe, zur letzteren 
von Hause aus in einem Abhängigkeitsverhältnisse 
stehe und mithin auch der Träger der Exekutive 
in einem solchen Abhängigkeitsverhältnisse zu der 
gesetzgebenden Gewalt des Volkes, hat ihn die bis- 
her herrschende Ansicht dahin aufgefaßt, er habe 
sagen wollen, die drei Gewalten seien vollständig 
gleichberechtigt und voneinander unabhängig, 
wenngleich sachlich sich berührend. Was die richter- 
liche Gewalt anlangt, so ist sie von jeder Einwir- 
kung der Exekutive freizustellen; sie ist lediglich den 
Gesetzen zu unterstellen und an diese gebunden, hat 
aber auch nach Montesquien ein weitgehendes Recht 
der Prüfung, ob die in ordnungsgemäßer Form 
publizierten Gesetze auch in rechtsbeständiger Form 
zustande gekommen sind. — Die Entwicklung, 
welche die Theorien Lockes und Montesquieus so- 
dann durch Rousseau erfuhren, gipfelte hauptsäch- 
lich darin, daß er die absolute Trennung der 
Gewalten, hier speziell an die absolute Trennung 
der Exekutive von der Legislative gedacht, vertritt, 
jede Teilnahme der ersteren an der letzteren für 
ausgeschlossen, ja für logisch unmöglich erklärt, 
die Gesetzgebungsgewalt als unveräußerlich dem 
Volke allein zuspricht und die Exekutive ihr für 
untergeordnet und von ihr abhängig erklärt. Die 
Gesetzgebungsgewalt des Volkes ist aber derart 
unveräußerlich, daß es eine Vertretung des Volkes 
im Willen gar nicht geben kann; die Vertretung, 
die ein Volk im Parlament hat, kann daher nicht 
ohne imperatives Mandat statthaben, und ein 
Gesetz, das von einer Volksvertretung ohne im- 
peratives Mandat beschlossen wäre, ist nicht gültig. 
3. Wie schon bemerkt, fanden die Lehren Montes- 
quieus und, je mehr die französische Nation der 
Revolution zutrieb, auch die Rousseaus einen für 
ihre Aufnahme günstigen Boden, bis zunächst die 
französische Revolution insbesondere die letzteren 
dann auch im wesentlichen in die Praxis umsetzte. 
Zugleich führte aber die gewollte gänzliche Neu- 
ordnung der materiellen verfassungsmäßigen Zu- 
stände mit innerer Rotwendigkeit dazu, ihr auch 
Konstitutionalismus. 
  
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formellen Ausdruck zu geben. Und so ergab sich 
gewissermaßen von selbst, zweifellos aber auch an- 
geregt durch das Vorbild, welches in dieser Hin- 
sicht von den selbständig gewordenen nordameri- 
kanischen Kolonien gegeben war, die Niederlegung 
der Verfassungsgrundsätze in einer Urkunde. Als 
erste Verfassungsurkunde dieser Art, von der Er- 
klärung der Menschenrechte unter dem 26. Aug. 
1789 abgesehen, stellt sich die französische vom 
3. Sept. 1791 dar. Sie steht vollständig unter 
dem Einfluß Rousseauscher Theorien, indem nach 
ihr die vollziehende Gewalt der gänzlich unbe- 
schränkten Gesetzgebungsgewalt, die durch eine 
einzige Kammer ausgeübt wird, untergeordnet ist, 
ja zum Teil von dieser selbst ausgeübt wird. Zwar 
ist die königliche Gewalt noch erhalten, auch für 
unteilbar und erblich, die Person des Königs auch 
für unverletzlich und unverantwortlich erklärt, aber 
der König ist nur Delegierter, Bevollmächtigter 
des Volkes, hat keinen Anteil an der gesetzgebenden 
Gewalt, sondern ihren Beschlüssen gegenüber nur 
ein Vetorecht, und auch dieses verliert seine Be- 
deutung einem zum drittenmal von der gesetz- 
gebenden Körperschaft gefaßten Beschlusse gegen- 
über. An Stelle des unverantwortlichen Monarchen 
sind die Minister für jede Verletzung der Ver- 
fassung verantwortlich. Nur in einem wesentlichen 
Punkte wich diese Verfassung von den Rousseau- 
schen Ideengängen ab. Zwar galt der Satz von 
der Unveräußerlichkeit der Gesetzgebungsgewalt 
des Volkes weiter und erhielt durch die von Sieyes 
formulierte Lehre vom pouvoir constituant und 
pouvoir constitué sogar noch eine bestimmtere 
Durchbildung, aber durch die von demselben 
Sieyes durchgesetzte Bestimmung jener Verfassung, 
daß die Abgeordneten nicht Vertreter ihrer ein- 
zelnen Departements, sondern des ganzen Volkes 
und an Aufträge und Instruktionen ihrer Wähler 
nicht gebunden seien, war der Grundsatz von der 
Unveräußerlichkeit der Gesetzgebungsgewalt des 
Volkes durchbrochen und diese letztere am letzten 
Ende, auch soweit es sich um Verfassungsände- 
rungen handelte, vom Volke in das Parlament 
verlegt. Erst die späteren Verfassungen der Re- 
volutionszeit nach Abschaffung des Königtums 
verlegen wieder dadurch, daß sie für Verfassungs. 
änderungen die Volksabstimmung verlangten, die 
konstituierende Gewalt in die Hände des Volkes, 
geben anderseits aber auch der Exekutive wieder 
Anteil an der Gesetzgebung, bis sie mit Errichtung 
des Kaisertums jener ein derartiges Übergewicht 
über die Legislative überlassen, daß in Wirklichkeit 
die absolute Monarchie errichtet und nur noch der 
Schein einer Gesetzgebungsgewalt des Volkes übrig 
geblieben ist. Nach Wiederherstellung des König- 
tums in Frankreich unter Ludwig XVIII. erhält 
dieses Land in der Charte constitutionelle vom 
4. Juni 1814 eine neue Verfassung, die als freie 
Gabe des Königs von Gottes Gnaden dem Volke 
aufoktroyiert, die souveräne Gewalt des ersteren 
nur soweit beschränkt, als sie ausdrücklich erklärt.
	        
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